Donnerstag, 30. Dezember 2010

Marie Cristen: Der Damenfriede (Knaur)

Die junge Venezianerin Simona Contarini ist auf dem Wege nach Flandern, als sie durch einen Zufall Louise von Savoyen begegnet, der Mutter des Königs von Frankreich. Der Krieg hat das Land ausgezehrt, die Bevölkerung hungert, und wenn nicht bald Frieden wird, dann wird Frankreich untergehen. So jedenfalls sieht Louise das - und beschließt, unter größter Geheimhaltung mit ihrer Freundin aus Kindertagen, Margarete von Österreich, zu verhandeln, die wiederum dem Erzfeind, dem Haus Habsburg, angehört. 
Die Contarini kommt ihr zupass, weil sie das Flandrische beherrscht - und weil sie ihre Meinung sagt, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Außerdem ist sie in der Heilkunst versiert, was es Louise ermöglicht, ihre Schwäche zu verbergen. Und so wird Simona zur ständigen Begleiterin der Königinmutter - bis der Damenfrieden von Cambrai ausgehandelt ist, und Louise stirbt. Ein grandioser Roman über eine wenig bekannte Episode der europäischen Geschichte.

Andreas Föhr: Schafkopf (Knaur)

An einem Oktobersontag steigt der Kleinkriminelle Stanislaus Kummeder mit einem Bierfass auf den Riederstein. Dort wird ihm der Kopf weggeschossen. Was er mit dem Bier dort oben wollte, und warum sich jemand mit einem Präzisionsgewehr auf die Lauer legte, um Kummeder zu beseitigen, das versuchen Kommissar Wallner und Polizeiobermeister Kreuthner herauszufinden.
Sie kommen einer langen Geschichte auf die Spur, die in einer Neumondnacht vor zwei Jahren bei einer Partie Schafkopf ihren Anfang nahm. Darin verschwindet eine junge Frau spurlos, nachdem sie vor ihrem schlagkräftigen Lebensgefährten Reißaus nehmen wollte. Es stellt sich heraus, dass auch der Wirt, in dessen Kneipe das Kartenspiel einst stattfand, seine Freundin regelmäßig verprügelt - und im Kofferraum eines chronisch erfolglosen Anwalts finden sich 200.000 Euro. Lange rätseln sie darüber, wie die einzelnen Details, auf die sie bei ihren Ermittlungen stoßen, zusammenpassen könnten. In einem furiosen Finale findet sich schließlich die Lösung. Eine tolle Geschichte aus Oberbayern, mit viel Lokalkolorit.

Georges Simenon: Der Mann aus London (Diogenes)

"Im Augenblick denkt man, es seien Stunden wie andere auch, und man merkt erst hinterher, dass etwas Außergewöhn- liches daran war." Seit beinahe 30 Jahren sitzt Maloin, der Rangiermeister des Hafenbahnhofs von Dieppe, in seinem Glaskasten, und schaut herunter auf das Geschehen. Eines Tages beobachtet er einen Mord; der Koffer, den der Mörder an sich bringen will, fällt ins Hafenbecken. Maloin fischt ihn heraus - und von diesem Moment an ist nichts mehr, wie es einmal war. 
Ein unverhofftes Ereignis bringt einen Mann aus dem Gleich- gewicht - das ist eine typische Simenon-Geschichte, und sie ist zudem derart brillant erzählt, das man nur staunen kann.

Beatrix Mannel: Die Hexengabe (Diana)

Als ihr Vater stirbt, soll Rosas Mutter, die Zapfin, Haus und Werkstatt verkaufen. Die Nürnberger Ratsherren verlangen, dass die Witwe die Stadt schnellstens verlassen soll. Denn sie hat keinen mänlichen Erben an ihrer Seite, dafür aber zwei kränkliche Töchter - und Rosa, die Älteste, begabt, schön und vorlaut, und den Bürgern unheimlich. Denn das Mädchen hat an ihrer linken Hand einen sechsten Finger, den die abergläubischen Nachbarn für einen Hexenfinger halten. Da ist allerdings auch noch eine Tochter aus erster Ehe, erinnert sich Rosa - und diese hat einen Sohn.
Um ihre Schwestern zu retten, ringt sie dem Rat eine Galgenfrist ab: Wenn es ihr gelingt, innerhalb von zwei Jahren ihren Neffen aus Ostindien zu holen, darf die Familie ihre Spielkartendruckerei in Nürnberg weiterführen. Doch schon bei der Überquerung der Alpen muss Rosa feststellen, dass die Reise nicht nur beschwerlich, sondern auch gefährlich ist. Denn am Wegesrand warten bereits gedungene Mörder auf das Mädchen. 
Wer aber ist ihr Auftraggeber? Erst nach ihrer Rückkehr erfährt Rosa, wer wirklich ihr Vater ist - und wer ein Interesse daran hat, sie aus dem Wege zu räumen. Eine abenteuerliche Geschichte aus dem 17. Jahrhundert, die mitunter an ein Märchen erinnert, aber spannend erzählt wird.

Axel Hacke: Der kleine Erziehungsberater (Knaur)

Axel Hacke, langjähriger Kolumnist bei der Süddeutschen Zeitung, lebt mit seinen drei Kindern und Frau am Stadtrand von München. Irgendwann kam er auf die Idee, die Erfahrungen, die er im Zusammenleben mit Anne, sechs, Max, fünf, und Marie, zwei Jahre alt, erworben hat, für das Magazin der Süddeutschen aufzuschreiben. So entstand Der kleine Erziehungsberater - ein wertvolles, weil realistisches Büch- lein für angehende Eltern. 
Es ist dünn, weil Eltern ohnehin wenig Zeit haben zum Lesen. Es kommt rasch auf den Punkt - siehe oben. Und es ist pointiert geschrieben, damit es durchdringt durch den Nebel, der die über- müdeten Elternhirne umwölkt. Kurze Warnung: Dies ist KEIN Buch für Pädagogen. Denn darin steht nicht, wie das Leben mit Kindern sein sollte. Aber Eltern werden nicken, wenn ihre Kraft dazu noch aus- reicht: Jawohl, jedes Wort ist wahr - genau so ist es.

Georges Simenon: Tropenkoller (Diogenes)

Ein "Non-Maigret" aus der Feder von Georges Simenon? Gespannt beginnt man zu lesen, und findet sich alsbald in eine undurchsichtige Geschichte hineingezogen, die um 1930 in Gabun, Westafrika, spielt. Ein junger Franzose trifft in Libreville ein, um Auslandserfahrung zu sammeln und die Welt kennenzulernen. 
Er muss allerdings schnell feststellen, dass die Uhren in Afrika in einem ganz anderen Tempo laufen, als er das von Daheim gewohnt ist. Niemand hier wartet auf diesen Joseph Timar, niemand braucht ihn - außer Adèle, der Frau des Hotelbesitzers, die sich zu ihm legt, und ihn dann abweist, um ihn später wieder zu verführen, bis er schier den Kopf verliert vor Lust und Eifersucht.
Dann stirbt Adèles Mann, und in derselben Nacht wird ein schwarzer Boy erschossen. Timar ist überzeugt davon, dass die Wirtin in die Angelegenheit verwickelt ist. Doch er will nun endlich etwas tun, in Afrika - und Adèle bietet ihm die Möglichkeit dazu. Denn sie hat eine Geschäftsidee und das nötige Geld, er aber hat durch Zufall die Beziehungen, die erforderlich sind, und beteiligt sich nur zu gern an dem Projekt, denn er sieht darin die Chance, nunmehr tätig zu werden, und zudem mit Adèle zusammen zu sein. Doch nach kurzer Zeit muss Timar erkennen, dass auch er nur eine Marionette in einem abgefeimten Spiel ist.
Eine hervorragend geschriebene Geschichte, flirrend wie die warme Luft am Äquator, die von Andeutungen lebt, und ebenso düster ist wie unterhaltsam. Brillant!

Marie Cristen: Das flandrische Siegel (Knaur)

Brügge, im 15. Jahrhundert: Christina Contarini, Tochter eines reichen Kaufmannes, soll verheiratet werden. Ihr Bruder Lucas, der eigentlich Maler werden will, soll nach dem Willen des Vaters zukünftig seine Tage im Kontor verbringen. Beide flüchten - Christina gemeinsam mit ihren jüdischen Geliebten und ihrer Freundin aus Kindertagen. Von Antwerpen aus wollen die Jugendlichen per Schiff nach Venedig reisen, der Stadt ihrer Träume. 
Doch dann landen sie in London, wo sie rasch in Bedrängnis geraten. Um all dem rasch wieder zu entkommen, stürmt Christina gemeinsam mit ihrem Daniel auf ein Schiff, dessen Mannschaft von der Cholera dahingerafft wird. Die Behörden lassen es 40 Tage lang in Quarantäne legen - und danach ist nichts mehr so, wie es einmal war. 
Ein spannender Roman, und das vorletzte der Flandern-Epen von Marie Cristen. Auf die Fortsetzung darf man sehr gespant sein.

Mittwoch, 22. Dezember 2010

Jens J. Kramer: Der zerrissene Schleier (Knaur)

15. Jahrhundert, Osmanisches Reich. Der Sultan lässt Christen ihre Söhne weg- nehmen, um sie als Muslime aufzuziehen und zu Elitesoldaten auszubilden. Als die Häscher in das Dorf kommen, in dem die kleine Thamar zu Hause ist, gibt der Vater jedoch seine Tochter weg. 
Mit sehr viel Glück gelingt es "Gjörgi", zu verheimlichen, dass "er" in Wahrheit ein Mädchen ist. Doch mit dem Übertritt zum Islam ist die Beschneidung verbunden. Und damit ist die Maskerade gescheitert - allerdings ist Thamar zu diesem Zeitpunkt bereits durch ihre Furchtlosigkeit und Schnelligkeit einem der Generäle des Sultans aufgefallen. Und so wird das wilde Mädchen mit den eisblauen Augen zu einem Kämpfer ausgebildet. 
Dieses Buch erscheint als eine Mischung aus Historienroman und Haremsphantasie. Es liest sich flüssig, auch wenn die Erzähler- perspektive ständig wechselt, und der Autor die einzelnen Erzähl- stränge eher bedächtig zusammenführt. Wenig geübte Leser dürfte das verwirren.

Alena Schröder: Wir sind bedient (Diana)

Warum Dienstleistung überwiegend Frauensache ist? Wer dieses Buch gelesen hat, der kann verstehen, warum Männer lieber Häuser bauen oder Autos reparieren, als Kranke und Alte zu pflegen, Kinder zu unterrichten oder Hotelzimmer aufzuräumen. Wer jemals Zweifel daran hatte, dass es zwischen den Geschlechtern deutliche Unterschiede gibt, der wird, nachdem er diese Stories gelesen hat, geheilt sein.
Denn was Frauen auf sich nehmen, um sich ein - obendrein meistens ausgesprochen dürftiges - Einkommen zu sichern, das würde sich wohl kaum ein Mann gefallen lassen. Was diese Verkäuferinnen, Flug- und Zugbegleiterinnen, Friseurinnen, Messehostessen Ballerinas und Pharmareferentinnen erzählen, das desillusioniert gewaltig - und macht deutlich, wie wenig Dienstleistung hierzulande geachtet wird. Dass diese Hebammen, Kassiererinnen, und Politessen ihre stressigen, schlecht bezahlten Jobs dennoch gern machen, auch das wird der Leser dieser gut geschriebenen Porträts staunend feststellen.

Kari Köster-Lösche: Die sizilianische Heilerin (Knaur)

Sizilien 1282: Die Soldaten des französischen Königs plündern und morden - und die Einwohner wehren sich dagegen, wo immer das möglich ist. Santino Cataliotti, ein Wundheiler, der sich auf die Wiederherstellung beschädigter Nasen spezialisiert hat, bekommt reichlich zu tun - und seine Tochter Costanza ebenfalls, die ihm assistiert. Als er sich weigert, auch die verletzten Franzosen zu behandeln, übernimmt sie diese Aufgabe - sehr zum Ärger ihrer Mutter, die den Platz ihrer Tochter eher in Haus und Küche sieht.
Auch der Vater reagiert verärgert, und versucht, die aufsässige Tochter zu verheiraten. Doch dieser Plan scheitert, weil sich kein Sizilianer findet, der Costanza heiraten will, die so ganz anders aussieht als ihre Landsleute, und obendrein wenige jener Tugenden mitbringt, die ihre Zeitgenossen bei einer Frau erwarten. 
Als dann auch noch die Inquisition vorspricht, weil jemand angezeigt hat, die Santini würden als Chirurgus praktizieren, ohne das vorgeschriebene Medizinstudium absolviert zu haben, ist das Maß voll. Costanza fürchtet um ihr Leben - und flieht zu den Franzosen, wo sie als Wundärztin tätig wird, und versucht, das Geheimnis ihrer Herkunft zu ergründen. Ein historischer Roman voll verblüffender Wendungen - nicht durchweg perfekt erzählt, aber spannend bis zum Schluss.

Dienstag, 21. Dezember 2010

Kevin Wignall: Die letzte Wahrheit (Heyne)

Conrad Hirst arbeitet als Auftragskiller - für einen deutschen Verbrecher, wie er meint. Doch als er aus dem Geschäft aussteigen möchte, stellt er fest, dass die Verhältnisse längst nicht so klar sind, wie er gedacht hat. 
Schnell bemerkt Hirst, dass er nur eine Marionette in einem Spiel ist, in dem Geheimdienste die Fäden ziehen. Eine Geschichte voller verblüffender Wendungen, ein Thriller mit einem faszinierenden Helden - und stilistisch ist dieses Buch auch exzellent.

Iny Lorentz: Die Ketzerbraut (Knaur)

Die schöne Münchner Patriziertochter Genoveva soll heiraten - doch der Brautzug, der sie zu ihrem Bräutigam, einem ebenso reichen Kaufmannssohn, nach Innsbruck bringen soll, wird überfallen. Ihr Zwillings- bruder kommt dabei ums Leben. Dass die Räuber Veva lediglich in ein Verlies gesperrt haben, um sie dann gegen Lösegeld freizugeben, glaubt dem Mädchen in München keiner. 
Um sie doch noch schnell unter die Haube zu bringen, verheiratet sie ihr Vater mit dem Sohn des Kaufherrn Rickinger, einem berüchigten Weiberhelden und Pfaffenhasser. Die beiden werden getraut und nach Augsburg abgeschoben, wo sich Jakob Fugger des jungen Paars annimmt. Doch während Ernst lernt, wie man klug Kaufmannsgeschäfte führt, sinnt ein weiterer Kaufmannssohn in München auf Rache. 
Benedikt Haselegner nämlich hat den Überfall auf Veva eingefädelt, um sie sozusagen als gefallenes Mädchen heiraten und sich Vermögen aneignen zu können, das ihm fehlt. Um an Geld zu kommen, scheut er kein Verbrechen - und bald sieht er eine Chance, den jungen Rickinger aus dem Weg zu schaffen. Sein Spießgeselle aber, der Anführer der Oberländer Bande, hat eigene Pläne. 
Ein spannend erzählter, handwerklich solide gemachter historischer Roman aus der Zeit der Reformation - trotz der schnittmusterartigen Story liest man das Buch gern und mit Interesse, was nicht zuletzt an einer Vielzahl sorgfältig recherchierter und gut ausgearbeiteter Details liegt. Die beiden Münchner Autoren wissen nur zu gut, wie man Leser begeistert.

Katarina Fischer: Liebe geht anders (Heyne)

Daphne hat Pech in der Liebe. Und sie hat eine Strategie, wie sie damit umgeht: Immer, wenn sich wieder ein Lover aus dem Staub gemacht hat, schleppt sie einen Eimer Farbe nach Hause, und renoviert. Das kommt so oft vor, dass der türkische Gemü- sehändler ihr bereits Heiratskandidaten vorstellt - wie wäre es beispielsweise mit dem netten Kollegen vom 99-Cent-Shop?
Daphne leidet. Aber ihre beste Freundin hat schon einen Plan; diesmal wird alles ganz anders. Oder? Wer Frauenliteratur amüsant findet, der wird dieses Buch der jungen Hamburger Autorin Katarina Fischer mögen. Garantiert!

Chris Tvedt: Tote Freunde (Knaur)

Rechtsanwalt Mikael Brenne gerät in Bedrängnis: Seine Freundin verlässt ihn, und dann wird auch noch ein Freund und Kollege tot aufgefunden. Wenig später stirbt unter mysteriösen Umständen obendrein dessen Frau. Doch da ist Brenne schon tief in Depressionen versunken. Und die nächsten Katastrophen lassen nicht lange auf sich warten. 
Von Panikattacken gebeutelt, versucht Brenne, einen Mandanten zu verteidigen, der seinen Bruder umgebracht haben soll. Wer der Täter war, das ist eigentlich offensichtlich - wenn man die Morde im Zusammenhang sieht. Doch daran denkt zunächst niemand. Bis sich herausstellt, dass der tote Junge missbraucht worden ist. Und sehr viel Geld bei sich hatte.
Lakonisch erzählt Chris Tvedt vom unspektakulären Dasein seines Helden Brenne mit seinen alltäglichen Sorgen und Ängsten - und von einem spektakulären Kriminalfall, der letzten Endes sehr einfach zu erklären ist. Eine spannende Geschichte aus Norwegen.

Sonntag, 24. Oktober 2010

Anita Loos: Gentlemen bevorzugen Blondinen ... aber Gentlemen heiraten Brünette (Diogenes)

Anita Loos war die erste bedeutende Drehbuchautorin in Hollywood. Wüsste man das nicht, dann wäre man versucht, über diese beiden Romane ein ziemlich drastisches Urteil zu fällen. Denn sie zeigen ziemlich deutlich, dass man auch mit Nichtigkeiten und Plapperei prima sein Geld verdienen kann.
Das gilt zum einen für die beiden Damen, die hier erzählen, wie sie aus einfachsten Verhältnissen aufsteigen zum It-Girl - und sich eine der begehrten guten Partien sichern. Das gilt aber auch für den Stil dieser beiden Romane, die zu lesen daher nicht besonders vergnüglich war. Da ist die berühmte Verfilmung mit Marilyn Monroe und Jane Russell als Showgirls Lorelei Lee und Dorothy doch deutlich kurzweiliger.

Prädikat: ***

Hans Sahl: Die Wenigen und die Vielen (Luchterhand)

Auch dieses Buch, der einzige Roman von Hans Sahl, berichtet vom Erlebnis Exil: Als die Nazis an die Macht kommen, muss Georg Kobbe um sein Leben fürchten - ein Berliner Dichter, der die falschen Freunde hat, die falschen Bücher gelesen und geschrieben hat, und obendrein Jude ist.
Durch halb Europa gehetzt und gejagt, kann er schließlich in die USA entkommen. Doch dort stellt er fest, dass dieses Asyl ihm nicht zur zweiten Heimat werden wird. Das liegt zum einen daran, dass es unendlich schwierig für den Schriftsteller ist, in dieser fremden Welt zu überleben. Zum anderen liegt es daran, dass Kobbe sich in erster Linie im Kreise seiner Landsleute bewegt - und diese setzen, so zeigt sich, die alten Debatten in der Neuen Welt fort. Da streiten sich Anarchisten, Kommunisten, Stalinisten und auch Sozialdemokraten fröhlich weiter, als fiele nicht soeben Europa in Trümmer. 
Es ist ein Reigen unseliger Geister, der da durch New Yorker Hinterzimmer spukt - und der Leser, der sich beim Treffen mit diesen Gespenstern kräftig gruselt, sieht urplötzlich die deutsche Nachkriegsgeschichte mit ganz anderen Augen. Denn die Perspektive dieses Georg Kobbe hilft dem Nachgeborenen, so manches zu verstehen, was man bisher eher kopfschüttelnd  im Geschichtsbuch zur Kenntnis genommen hat. 
Ein grandioses Buch, das auch stilistisch so manche Überraschung bietet. 

Prädikat: *****

Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten / Das Exil im Exil (Luchterhand)

Hans Sahl, geboren 1902 als Sohn eines jüdischen Industriellen in Dresden, wirkte im Berlin der 20er Jahre als Kritiker und Kulturjournalist, und schrieb Gedichte, Erzählungen und Theaterstücke. 1933 rettete er sich durch die Flucht - zunächst nach Prag, und dann über Zürich, Paris und Marseille nach New York. In den beiden autobiographischen Werken, die in diesem Buch zusammengefasst sind, berichtet er von seiner Kindheit in der sächsischen Landeshauptstadt, von seinen Jugendjahren, und von seinem Leben in Berlin. 
Er erinnert an das faszinierende kulturelle Leben jener Zeit, er erzählt von der Flucht, vom Schicksal der Vertriebenen und der Gebliebenen, und vom Erlöschen der deutschen Kultur, zerrieben zwischen Terror und Exil - erschossen, zerbombt, vertrieben, vergast, verhungert, verstummt. Erstaunt lernt man einen ebenso wortgewaltigen wie unbestechlichen Chronisten kennen - was für ein Werk, und was für eine sprachliche Präzision! 

Prädikat: *****

Samstag, 23. Oktober 2010

Sabine Ebert: Der Fluch der Hebamme (Knaur)

Dietrich, eigentlich vorgesehen als Nachfolger von Markgraf Otto, zieht mit Kaiser Friedrich von Staufen, genannt Barbarossa, ins Heilige Land. Sein Bruder Albrecht sieht dies als Chance, sein Erstgeburtsrecht durchzusetzen. Er setzt den Vater gefangen, und versucht, ihn zur Abdankung zu zwingen. 
Diese Intrige scheitert - doch kurz darauf trifft den alten Markgrafen der Schlag, und Albrecht tritt endgültig an seine Stelle. Der Erbe ist dumm, unbeherrscht und grausam. Für Freiberg und die Freiberger, vor allem aber für die Hebamme Marthe und ihre Familie, brechen harte Zeiten an.
Sabine Ebert berichtet im vierten Band ihrer Romanserie um Ritter Christian, den Begründer von Christiansdorf, das später zu Freiberg wurde, und seine Frau Marthe von den Ereignissen zur Zeit des Dritten Kreuzzuges - kenntnisreich und detailliert, aber zugleich spannend, lebendig und sehr solide erzählt. Wer sich für sächsische Heimatgeschichte interessiert, der wird beim Lesen so manches erfahren und lernen. 
Mit dem fünften Band, so hat die Autorin bereits angekündigt, wird dieser Roman enden. Wir dürfen freilich schon neugierig sein auf ihr nächstes Projekt; es soll sich mit der Völkerschlacht bei Leipzig befassen.

Prädikat: ****

Sonntag, 17. Oktober 2010

Amy Appleton: Die Brautjägerin (Diana)

Rebecca Orchard hat aus ihrer langjährigen Erfahrung als Headhunterin eine sehr interessante Geschäftsidee entwickelt: Sie sucht für gestresste Manager die Traum- frau, die perfekt in das gestylte Penthouse, die Luxuslimousine und das Privatflugzeug passt, die der Mann von Welt aber selbst nicht findet, weil sein Terminkalender ihm keine Chance lässt.
Soeben hat sie für einen steinreichen Amerikaner die Schottin gefunden, die dieser schon immer an seiner Seite wissen wollte. Da stellt sie fest, dass zwei weitere Mandate ihr wohl Probleme bereiten werden. Da ist zum einen "Ed, das Brett", der eigentlich gar keine Probleme mit Frauen hat - weil er auf sie keinen Gedanken verschwendet. Doch sein Chef engagiert Rebecca, weil er findet, dass ein Manager, der Karriere machen will, verheiratet sein sollte. Schwierig genug. Doch nicht so problematisch wie der Fall Sam. Denn Sam ist mitnichten ein Mann, sondern eine ebenso erfolgreiche wie mannstolle Anwältin, die droht, Rebecca zu ruinieren, wenn es ihr nicht gelingt, sie unter die Haube zu bringen.
Eine komische Geschichte aus dem Märchenland der Superreichen, die es gewohnt sind, für jeden Handgriff entsprechende Dienstleister zu beauftragen. Und natürlich gibt es für alle ein Happy-End. 

Prädikat: **

Waltraut Lewin: Die Jüdin von Konstantinopel (Knaur)

Das Leben der Dona Gracia Nasi, alias Beatrice de Luna y Mendes, ist für eine Frau ihrer Zeit alles andere als typisch: Die Jüdin führt ein Bank- und Handelshaus von euro- päischer Bedeutung. Sie lebt in Konstan- tinopel, und die Geschäfte laufen gut. Trotzdem ist sie mit ihrem Leben so unzu- frieden, dass sie es beenden will. Denn ihr Reichtum hatte stets ein Ziel: Ihren ver- folgten jüdischen Mitmenschen beizu- stehen, Leben zu retten, wo immer das notwendig wurde. Auf ihrem Weg von Lissabon über Antwerpen, Venedig und Ferrara in das Osmanische Reich hatte sie dazu nur zu oft Gelegenheit.
Nun jagt die Inquisition die Conversos von Ancona, und Gracia hatte versucht, sie mit einem Handelsboykott davon abzubringen. Damit war sie zunächst ziemlich erfolgreich - bis ihre eigenen Glaubens- genossen ihr in den Rücken gefallen sind. Diese Niederlage vergällt ihr das Leben - und ihr Liebhaber Joseph, den sie mit ihrer Tochter verheiratet hat, kann ihr zunächst nur eine Wochenfrist Aufschub bis zu ihrem Freitod abhandeln. Doch dann ernennt der Sultan Gracia zur Steuerpächterin der türkischen Provinz Galiläa. Und plötzlich sieht sie eine Chance, die in ganz Europa verstreuten Juden zurück in nach Israel zu führen. 
Dass dieses Unterfangen scheitern wird, weiß der historisch interessierte Leser - doch die Vorgeschichte erzählt Waltraut Lewin außerordentlich spannend und kenntnisreich.

Prädikat: ***

Ingrid Noll: Ehrenwort (Diogenes)

Als der hochbetagte Willy Knobel unglücklich stürzt, setzt sich Sohn Harald durch: Sein Vater wird zu Hause gepflegt, Punkt. Doch damit ist nicht das Haus des Seniors gemeint, sondern das Gästezimmer der eigenen Wohnung, was Ehefrau Petra nicht sonderlich begeistert. 
Das Zusammenleben dreier Generationen unter einem Dach bringt dann auch prompt einigen Trubel mit sich. Denn jeder Hausbewohner hat so seine Geheimnisse. Einige davon erledigt Autorin Ingrid Noll in bewährt rabenschwarzer Weise - durch Altenpflegerin Jenny beispielsweise, die mit den Kriminellen, die Sohn Max erpressen, noch eine alte Rechnung offen hat.
Mit viel Humor erzählt, locker gestrickt - nun ja, nicht jede Wendung und nicht jedes Detail überzeugt. Aber der Leser amüsiert sich wie Bolle, und das ist doch auch nicht zu verachten. 

Prädikat: ***

Susanne Schädlich: Immer wieder Dezember (Knaur)

1977 reist die Familie Schädlich aus. Vater Joachim, der Schriftsteller, der in der DDR keine Zukunft mehr sah, seine Frau und seine zwei Töchter. Susanne Schädlich, damals zwölf Jahre alt, verliert ihren Bruder - Jan, bereits 17 Jahre alt, will lieber dort bleiben, wo er aufgewachsen ist - und wird herausgerissen aus ihrer glücklichen Kindheit im Märchenviertel von Berlin-Köpenick. Denn der Westen ist fremd; dort sind sie Fremde, deren Geschichte und deren Erfahrungen nicht interessieren. 
Und zugleich werden sie die DDR nicht los. Denn die Stasi klettet sich an die Schädlichs. Selbst nach dem Untergang des "Arbeiter- und Bauernstaates" werden sie die Spitzel und die Intriganten nicht los. In einer beeindruckenden Erzählung berichtet Susanne Schädlich, wie ihr Onkel Karl-Heinz alles daran setzte, die Familie seines Bruders zu zerstören und seinen Schriftstellerkollegen zu schaden - aus Geltungsdrang, und um ein paar schäbiger persönlicher Vorteile willen. Eine deutsch-deutsche Geschichte, die über eine reine Autobiographie weit hinausreicht. Das liegt zum einen daran, dass hier das Ausmaß der Niedertracht und Skrupellosigkeit, mit der das DDR-Regime gegen Kritiker vorging, sichtbar wird wie selten zuvor. Das beruht aber auch auf der Wucht, mit der die Autorin die Auswirkungen dieser Handlungen auf ihre Familie deutlich macht - eine bitterböse Chronik, denn ohne die Unterstützung, die die Betroffenen aus dem Freundeskreis erfahren haben, hätte sich wohl die Stasi durchgesetzt.

Prädikat: ****

Freitag, 20. August 2010

Lena Falkenhagen: Die Schicksalsleserin (Heyne)

Wien, 1529: Die Türken stürmen heran. Nur knapp gelingt es der jungen Madelin, sich mit ihren Gefährten hinter den Mauern der Stadt in Sicherheit zu bringen. Doch in Wien ist sie nicht willkommen. Ihre Schwester weist sie ab, und auch ihre Mutter empfängt sie nicht.
Während der Feind die Mauern berennt, kommt die junge Frau schrittweise hinter ein sorgsam gehütetes Familiengeheimnis. Denn ihr Name ist eigentlich Meryem. Und ihre Mutter Elisabeth von Schaunburg, Mätresse des Grafen zu Hardegg, spielt ein doppeltes Spiel: Ihr Herz gehört noch immer Meryems Vater Mehmed - doch der steht im Dienst des Sultans, und setzt alles daran, die Stadt Wien zu erobern. 
Ein Roman im historischen Gewand, geschickt gestrickt um ein geheimnisvolles Tarotspiel und eine junge Frau, die aus gutem Hause stammt, aber nun mit fahrendem Volk umherstreift. Dramatisch, exzellent erzählt, kurz und gut: Erstklassiger Lesestoff für alle Freunde des Genres. 

Prädikat: ***

Samstag, 14. August 2010

Ulrich Grober: Vom Wandern (Zweitausendeins)

"Auch Körperkraft ist eine erneuerbare Energie", meint Ulrich Grober. Er ist freier Journalist, und lebt am Rande des Ruhr- gebietes. Gewandert ist er in seiner Kind- heit, mehr oder weniger freiwillig. Nun, als Erwachsener, entdeckt er die Fortbewegung auf Schusters Rappen neu für sich - und lässt alle Welt an seinen Touren teilhaben. 
Das freilich ist nicht unproblematisch, wird der Leser dem Autor bald zustimmen: "Ohne die direkte Erfahrung von Nahräumen bleibt die Wahrnehmung globaler Räume oberflächlich", schreibt Grober. "Ohne das eigene Erleben in begehbaren Räumen ist man den medial vermittelten Bildern ausgeliefert. Virtuelle Realitäten werden nur im Gegenlicht von realen Erfahrungen produktiv." Vom Wandern zu lesen, das ist ähnlich hilfreich wie die Lektüre eines Kochbuches durch einen Hungrigen: Es macht ihn vielleicht schlauer, aber es macht nicht satt. 

Prädikat: ***

Jonathan Tropper: Sieben verdammt lange Tage (Knaur)

Vater Foxman ist gestorben - und sein letzter Wunsch treibt seinen Kindern den Angstschweiß auf die Stirn: Die Foxmans sollen die jüdische Totenwache halten - Schiwa sitzen, sieben Tage lang, alle gemeinsam auf unbequemen Stühlen in einem engen Raum, abgelenkt nur von den Nachbarn, die zum Kondolieren erscheinen. "Bestimmt werden wir uns auf die Nerven gehen, aber für die nächsten sieben Tage seid ihr wieder meine Kinder. Und ihr habt Hausarrest!" verkündet Mutter Foxman, im Hauptberuf Psychologin und Autorin vielverkaufter Ratgeber zum Thema Erziehung.
Und so lassen sie sich denn auf den Stühlchen nieder, und harren der Nachbarn, die da klingeln werden - Paul, der das Familienunter- nehmen weiterführt, obwohl er eigentlich nie wollte, Wendy, verheiratet mit einem Finanzmakler, was sie als Lebensaufgabe betrachtet und nicht als vergoldetes Gefängnis, Phillip, das Nesthäkchen, das stets ganz sicher die falsche Entscheidung trifft, und Judd, der Ich-Erzähler, der erst kürzlich seine Frau in seinem Bett mit seinem Boss erwischt hat - und nun erfährt, dass dieser zeugungsunfähig und seine Frau schwanger ist. 
Der Leser wird erstaunt feststellen, wie wenig die trauernde Familie in diesen Tagen zu Hause ist. Die wirklich wichtigen Ereignisse finden anderswo statt - und nach den sieben Tagen ist nichts mehr, wie es vorher war. Eine turbulente, charmant erzählte Geschichte um große und kleine Lebenslügen. 

Prädikat: ***

Donnerstag, 5. August 2010

Gerard Donovan: Winter in Maine (Luchterhand)

Lang ist der Winter in den Wäldern von Maine, kalt und einsam. Bislang hat das Julius Winsome nicht gestört; er lebte schon lange allein inmitten der Bücher seines Vaters. Gesellschaft leistete ihm nur sein Pitbullterrier Hobbes. Doch dann wird der Hund erschossen - absichtlich, meint Julius. Und begibt sich nun seinerseits auf die Jagd nach dem Hundemörder. 
Eine brutale, verstörende Geschichte, handwerklich ungeheuer gut gemacht. Man kann gar nicht wieder aufhören zu lesen. 

Prädikat: ****

Johann Peter Hebel: Unverhofftes Wiedersehen (Diogenes)

Die alten Geschichten sind doch oft die besten. Diese hier hat Johann Peter Hebel, Direktor am Karlsruher Gymnasium, für den "Rheinischen Hausfreund" geschrieben, einen Kalender. Eine Auswahl davon er- schien 1811 unter dem Titel "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds", und die wiederum schönsten davon enthält dieses Büchlein.
Die Geschichten vermitteln auf kunstvolle Art und Weise Lebensweisheit und Moral. Wer darauf achtet, der wird zudem feststellen, dass sie auch in ihrer sprachlichen Gestaltung kleine Meisterwerke sind, die nicht leicht ihresgleichen haben. Wunderbar! So etwas sollte eigentlich in der Schule gelesen werden.

Prädikat: *****

Sonntag, 1. August 2010

Chuck Hogan: Mördermond (Heyne)

Don Maddox kehrt nach Black Falls zurück, und nimmt in dem zunehmend herunter- kommenden Städtchen eine Stelle als Hilfspolizist an. Der einzige, der diese Entscheidung versteht, ist der frühere Polizeichef des Ortes. Denn er weiß, dass in Black Falls Dinge geschehen, die besser nicht geschehen sollten.
Und er weiß, welchen Job Don eigentlich hat: Er ist ein verdeckter Ermittler. Black Falls ist als Umschlagplatz von Designer- drogen aufgefallen. Maddox soll den Drogensumpf trockenlegen, und außerdem in dem Städtchen wieder für Recht und Ordnung sorgen. Denn auch die örtliche Polizei gleicht mittlerweile eher einer Räuberbande. 
Der Leser ahnt bald, dass die beiden Aufgaben untrennbar mit- einander verknüpft sind. Doch wie die Machtverhältnisse in Black Falls wirklich aussehen, das deckt Chuck Hogan in seinem Roman erst sehr spät auf - und so bleibt dieser Krimi, in dem es natürlich auch Leichen gibt, spannend bis zum Schluss. 

Prädikat: ***

Corina Bomann: Das Krähenweib (Knaur)

Als Annalena Habrecht 1701 in Berlin den Apothekerlehrling Johann Friedrich Böttger kennenlernt, ist das Liebe auf den ersten Blick. Doch Böttger hat noch eine zweite Leidenschaft: Die Alchemie. Schon bald kommt in Berlin das Gerücht auf, er könne Gold erzeugen. Dafür interessiert sich prompt auch der König von Preußen, dem der vermeintliche "Goldmacher" gerade noch so entkommen kann. 
Böttger flüchtet nach Sachsen - und dort wird er umgehend von den Beamten Augusts des Starken festgesetzt. Denn auch der Kurfürst möchte seine Kassen auffüllen. Schlechte Voraussetzungen für eine Liebesbeziehung. Die Rahmenerzählung allerdings, die Annalena obendrein als Henkerstochter vorstellt, die mit einem Henkersknecht verheiratet ist und von diesem so lange gequält und verfolgt wird, bis sie ihn erschlägt, verkompliziert die Geschichte nur unnötig. Zum eigentlichen Geschehen trät sie wenig bei, und zusätzliche Spannung baut sie auch nicht auf.
Ein halbwegs solide erzählter Historienroman, mit herzigen Stellen für Liebhaberinnen derartiger Liebesgeschichten. 

Prädikat: **

Alexandra von Grote: Der tote Junge aus der Seine (Heyne)

Die Leiche eines Kindes wird aus der Seine gefischt. Hände und Füße des Knaben sind gefesselt; er wurde im Meerwasser ertränkt, und zuvor brachial misshandelt und vergewaltigt, stellt die Gerichtsmedizin fest.
Doch die Polizei kommt nicht weiter. Denn der Unbekannte wird nirgends vermisst. Ein zweiter Kriminalfall bringt die Beamten dann allerdings auf eine interessante Spur: Ein bekannter Fernsehmoderator wird erschla- gen in einer Herrentoilette aufgefunden. Was sie bei den Ermitt- lungen herausfinden, das ist ebenso unappetitlich wie erschütternd. Dieser Fall führt Kommissar LaBréa und seine Kollegen in die höchsten Kreise der Pariser Gesellschaft.
Ein spannender Krimi, routiniert erzählt.

Prädikat: ***

Tomasz Rózycki: Zwölf Stationen (Luchterhand)

Ein Heldenepos aus dem modernen Polen: Eigentlich wollte der Erzähler ja nur seine alte Großmutter besuchen, in Opole, "irgendwo an der Grenze zwischen Grober- und Biederschlesien". Doch dann gibt's nicht nur Piroggen für den Enkel, sondern auch einen Auftrag. Der namenlose Held soll die Verwandtschaft zusammentrommeln, die heute weit verstreut lebt, und mit allen in die Heimat zurückkehren, aus der sie zum Kriegsende vertrieben worden sind.
Dieses Poem ist ebenso furios wie grotesk. Es bricht über den Leser herein mit der Gewalt einer Flutwelle, und zwingt regelrecht zum Umblättern - Rózycki überwältigt mit seiner Fabulierkunst, seiner Ironie und seiner Sprachkraft. 

Prädikat: ****

René Goscinny /Jean-Jacques Sempé: Der kleine Nick ist wieder da! (Diogenes)

45 Geschichten vom kleinen Nick hat Anne Goscinny, die Tochter von René Goscinny, aus dem Archiv ihres Vaters heraus- gesucht. Sie sind zwischen 1959 und 1965 im Sud-Ouest Dimanche und im Pilote erschienen. Und Jean-Jacques Sempé hat noch einmal den Zeichenstift gezückt und all jene Geschichten, zu denen keine Zeichnungen mehr vorhanden waren, neu illustriert.
Darüber haben sich nicht nur unsere Kinder gefreut. Denn Nick erweist sich erneut als kleiner Philosoph, der insbesondere die Welt der großen Leute erstaunlich hellsichtig betrachtet. So macht das Vorlesen auch den Erwachsenen Spaß, und lernen kann man aus diesen Geschichten sowieso eine ganze Menge.
Die Kinderchen freuen sich, weil es auch in anderen Familien mitunter ziemlich unpädagogisch zugeht. Kichernd stellen sie fest, dass sich selbst die besten Freunde gelegentlich zusammenraufen müssen. Und die Eltern merken schnell, dass man nicht immer jedes Problemchen auf die Goldwaage legen muss: Wo gehobelt wird, da fallen halt Späne. 

Prädikat: *****

Mittwoch, 28. Juli 2010

Tom Piccirilli: Schmerz (Heyne)

Sozialabeiter Tom eilt durch den Schnee- sturm zum Haus der Familie Shepard. Dort soll ein Kind in Gefahr sein, und es ist sein Job, sich um solche Fälle zu kümmern. Doch mit der Tochter Kelly ist alles in Ordnung.
In einem Käfig im Keller aber findet Tom einen Behinderten - Nuddin, den Bruder der Hausherrin. Er entschließt sich, dieses groteske Wesen gleich mitzunehmen, denn einen Menschen hinter Schloss und Riegel zu halten, widerspricht seine Vorstellungen von Humanität. 
Das allerdings führt zu einer Serie von Katastrophen, die Tom sich nicht erklären kann. Schon bald steht er unter Mordverdacht - und bei einer Leiche bleibt es nicht. Tom muss erkennen, dass Nuddin nicht umsonst in einem Käfig eingeschlossen war. Ein spannender Thriller mit einem verblüffenden Ende.

Prädikat: ***

Montag, 19. Juli 2010

Herr Ober: "Die Rechnung, bitte!" (Knaur)

Ein Kellner, der das eher unfreiwillig geworden ist (Job weg, Geld alle, und keine Idee, was sonst machen!), schreibt ein Blog: "Waiter Rant" geniesst in den USA mittlerweile Kultstatus. Im Internet berichtet der Kellner freizügig von seiner Arbeit in den mehr oder minder guten Restaurants, von seinen Kollegen und den Kunden sowie von seinen täglichen Abenteuern im Service. Der deutsche Leser sollte wissen, dass ein Kellner in den USA vielerorts keinen Lohn bekommt, und ausschließlich vom Trinkgeld seiner Gäste lebt. "Die Rechnung, bitte!" ist daher ein ausgesprochen mehrdeutiger Titel.
Ach wäre doch der Rest des Buches literarisch genauso anspruchsvoll. Doch davon kann keine Rede sein. Man erfährt so manches, was man schon immer ahnte, aber eigentlich nicht wirklich ganz genau wissen wollte. Man lernt ziemlich schnell, warum sich Küche und Service in vielen Restaurants nicht ausstehen können. Und natürlich verrät der Autor, welche Gäste er nicht mag - so ziemlich alle, so scheint es, wenn man durch das Buch endlich durch ist, denn letzten Endes bleibt nach all den bissigen Anekdoten kaum ein guter Faden an jenen Leuten, die das Geld mitbringen, das doch der Kellner so liebt. Das liest sich mitunter ja ganz amüsierlich, aber 350 Seiten damit werden unterm Strich ganz schön lang.

Prädikat: **

Dienstag, 13. Juli 2010

Susa Bobke / Shirley Seul: Männer sind anders. Autos auch. (Knaur)

Geschichten von Autos und ihren Menschen erzählt Susa Bobke, derzeit unterwegs im Allgäu als eine von fünf weiblichen Gelben Engeln des ADAC. Sie hat ihre Erlebnisse - kuriose, haarsträubende, gefährliche und manchmal auch berührende - mit Hilfe ihrer Freundlin Shirley Seul zu Papier gebracht. Und man muss sagen: Sie erzählt extrem witzig, selbstbewusst und bringt Dinge gern auf den Punkt.
Allerdings war das nicht immer so. Bobke erinnert sich an ihren Start im Kfz-Handwerk; zwar wollte sie schon als Kind eigentlich immer unter die Schrauber gehen. Aber seinerzeit waren Mädchen in der Autowerkstatt noch rarer als heute. Und so drehte die Tochter eines Land-Tierarztes zunächst einige unent- schiedene Runden an der Uni, bevor sie eine Freundin in eine Lehr- werkstatt buchstäblich schleppte. 
Bobke, die Kfz-Meisterin, ist nun seit mehr als 15 Jahren beim ADAC und hilft den Mitgliedern des Automobilklubs bei Pannen weiter. Aus jeder Zeile erspürt man, dass dies - trotz Schichtdienst - ihr Traum- job ist. Gratulation an den Arbeitgeber für die Begeisterung, die sich hier mitteilt - überzeugendere Werbung kann es kaum geben. 

Prädikat: ****

Montag, 12. Juli 2010

Denise Mina: In der Stille der Nacht (Heyne)

An einem Sonntagabend stürmen zwei Bewaffnete ein Haus in einem Vorort von Glasgow. Sie rufen nach einem "Bob", und fordern zwei Millionen Pfund. Als die Familie verkündet, hier wohne niemand mit diesem Namen, man stamme aus Indien und man habe diese Summe nicht, schnappen sich die Gangster den Senior und verschwinden mit ihm.
Vorher freilich löst sich aus der Pistole ein Schuss - und trifft die Hand von Aleesha, der Tochter des Entführten. Sie erkennt den Schützen wieder, als der sie im Krankenhaus besucht. Und reitet mit ihm in den Sonnen- untergang, was natürlich heute per Automobil erledigt wird. 
Eine Liebesromanze aus der schottischen Unterschicht, gut getarnt als "Thriller". Mit der heißen Nadel genäht, und schlecht übersetzt ("silicon chips" sind "Silizium-Chips"!). So wird das Lesen gleich doppelt zur Strapaze. Langweilig! 

Prädikat: --

Dienstag, 6. Juli 2010

Robert van Gulik: Mord nach Muster (Diogenes)

Die Pest grassiert in der chinesischen Hauptstadt. Der schwarze Tod bringt Recht und Ordnung ins Wanken. Und nicht nur die Straßenkehrer, die eigentlich die Toten fortschaffen sollten, nehmen sich so einige Freiheiten heraus. Auch der alte Adel, so scheint es, hat noch etliche Rechnungen zu begleichen. Richter Di jedenfalls, der für die Zeit der Abwesenheit des Kaisers nicht nur als Präsident der Reichsgerichts, sondern auch als Notstandsgouverneur fungiert, wird in sehr namhafte Familien gerufen, wo sich unter merkwürdigen Umständen die Todesfälle häufen. 
Die China-Krimis von Robert van Gulik haben Suchtpotential. Sie sind wie Schaufenster in eine fremde, exotische Welt - und zeigen zugleich, dass Menschen eigentlich überall auf der Welt ähnliche Leidenschaften und Schwächen haben. 

Prädikat: *****

Sonntag, 4. Juli 2010

Robert van Gulik: Halskette und Kalebasse (Diogenes)

In einer friedlichen Stadt am Fluss will Richter Di ein paar Tage ausspannen. Doch als er dort ankommt, wurde gerade eine grauslig zugerichtete Leiche gefunden. Und dann lässt ihn die Lieblingstochter des Kaisers in den nahegelegenen Wasserpalast rufen, wo er unter den misstrauischen Augen der Hofschranzen - als Arzt verkleidet - mitten hinein in Palastintrigen der schlimmsten Sorte gerät. Denn der Prinzessin wurde eine wertvolle Kette gestohlen, und sie legt größten Wert darauf, dieses Schmuckstück schnellstens zurückzubekommen. Ein Fall für Richter Di.
Dieses hohen Beamten hat es übrigens wirklich gegeben. Der nieder- ländische Diplomat und Chinakenner Robert Hans van Gulik hat einige Fälle des Richters übersetzt; dann erfand er, zum Teil auf Kriminal- berichte aus der chinesischen Literatur gestützt, zahlreiche weitere Fälle. Seine Texte verraten profunde Kenntnis chinesischer Mentalität, Kultur und Geschichte. Und auch der Leser lernt, indem er Richter Di durch seine Fälle folgt. 

Prädikat: *****

Rebecca Fischer: Lügst du noch oder liebst du schon? (Diana)

Die alleinerziehende Franca erzählt beim Speeddating, sie sei alleinstehend und erfolgreiche PR-Frau. Oliver, Junggeselle, begehrter Sachbuchautor mit Eigentums- wohnung in bester Hamburger Wohnlage, ist zu dem Speeddating gegangen, um für ein neues Buch zu recherchieren. Zu Test- zwecken erzählt er, er sei geschieden, und alleinerziehender Vater.
Dummerweise fliegen die beiden aufeinan- der. Und so folgt ein ganzes Buch voll Verrenkungen, Irrungen und Wirrungen, bis sie sich kriegen. Die Geschichte um die beiden Schwindler liest sich wie eine mäßig gelungene Semesterarbeit aus dem Kurs "Kreatives Schreiben" - aber es scheint ja genug Leser zu geben, die solche "Einblicke" in die ach-so-schicke und glamouröse Medienwelt schätzen. Gabrielle Engelmann, hier unter Pseudonym, jedenfalls gilt als erfolgreiche Autorin. 

Prädikat: *

Iny Lorentz: Aprilgewitter (Knaur)

Lore und Fridolin von Trettin, den Lesern bereits aus "Dezembersturm" bekannt, sind von Bremen nach Berlin gezogen. Fridolin wird Teilhaber einer Bank. Lore erfüllt sich ihren großen Traum, und eröffnet ge- meinsam mit ihrer Freundin Mary einen Modesalon. Das freilich kommt im standes- bewussten Berlin nicht gut an.
Lore muss feststellen, das die Berliner Gesellschaft - obwohl unglaublich dünkel- haft - am Tratsch Vergnügen findet. Und eine Flickschneiderin, die mit einem Freiherrn verheiratet ist - dieses Gerücht sorgt dafür, dass sie geschnitten wird. Es dauert lange, bis sie herausfindet, wer für dieses Gerede sorgt. Als dann noch Fridolin im Gefängnis landet, weil er im Bordell einen russischen Fürsten und eine Prostituierte erschossen haben soll, ist das Maß voll. Erst rettet Lore ihren Gatten - und dann verlässt sie ihn. 
Fridolin wiederum folgt ihr in die Schweiz, um sich zu erklären. Dort kommt er gerade pünktlich an, um seine Frau nebst Mündel und Zofe aus einer Lawine auszugraben. Womit das Finale dieses an erzählerischen Abenteuern reichen, dennoch aber unglaublich spannenden Schmökers wohl nicht mehr in Frage steht. 

Prädikat: ***

Sonntag, 27. Juni 2010

Munro Leaf: Ferdinand (Diogenes)

Die Geschichte vom Stier, der kein Stierkampfstier sein wollte. Denn Ferdinand, so heißt das Tier, liegt am liebsten unter seiner Korkeiche und schnuppert an den Blumen. Eine köstliche Geschichte von Munro Leaf mit wunder- vollen, ironischen Bildern von Robert Lawson - ein echter Klassiker. 

Prädikat: ****

Samstag, 26. Juni 2010

Stefan Kieseby: Nebenan ein Mädchen (Heyne)

Stefan Kieseby bemüht sich, die beklemmende Atmosphäre einer Kleinstadt in den Wirtschaftswunderjahren literarisch zu fassen. Und in der Tat: Dieses Buch riecht nicht nach Bohnenkaffee und Persil; es riecht nach Moder und Socken, nach Exkrementen und nach Sauna. Schnell wird sichtbar: Die scheinbar heile Welt, in der die Söhne der besseren Angestellten gemeinsam aufwachsen, hat Risse. Doch auch dieser Text hat Risse; und im letzten Drittel mag man ihm kaum noch folgen, so wenig glaubwürdig wird hier erzählt. Schade.

Prädikat: *

Paddy Richardson: Der Vogelbrunnen (Droemer)

Die Journalistin Claire erhält den Auftrag, die Biographie des Serienvergewaltigers Travis Crill zu schreiben. Dabei hat sie kein gutes Gefühl, doch der Text wird extrem gut bezahlt, und das Geld kann die junge Witwe durchaus brauchen. Denn ihre Tochter will demnächst die Schule ab- schließen und ein Studium anfangen.
Widerstrebend beginnt Claire mit der Arbeit. Das fällt ihr schwer, nicht zuletzt, weil sie Crill dazu mehrfach interviewen muss. Im Gespräch mit dem Straftäter verstärkt sich die Angst, die Claire empfindet. Denn sie hat zunehmend den Eindruck, dass sie von ihm beobachtet wird. 
Ein Gespräch mit einem Kriminalpolizisten bringt zusätzliche Unruhe in ihr Leben. Denn erstaunt stellt sie fest, dass sie sich durchaus für ihn interessiert. Ein klassischer, ziemlich sorgsam gebauter Thriller mit den genretypischen Irungen und Wirrungen - und einem durchaus knalligen Finale.

Prädikat: ***

Sana Krasikov: In Gesellschaft von Männern (Luchterhand)

In Gesellschaft von zumeist amerikanischen Männern, um den Titel zu präzisieren, sind Frauen, die aus den zerfallenden Staaten, die einstmals die Sowjetunion bildeten, in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten gegangen sind. Hier machen sie üblicherweise das, was sie auch zu Hause schon getan haben: Sie schuften, und halten die Familie zusammen - jedenfalls soweit davon noch etwas übrig ist. 
Geschichten von starken Frauen, die sich in einer fremden Welt mitunter sehr erfolgreich integrieren, manchmal aber auch brutal scheitern und Fremde bleiben - aufgeschrieben von einer jungen Schriftstellerin, die in der Ukraine geboren wurde, und in Georgien sowie in den USA aufgewachsen ist. Geschichten zwischen den Welten - lakonisch und mit trockenem Humor erzählt. 

Prädikat: ***

Mittwoch, 23. Juni 2010

René Goscinny /Jean-Jacques Sempé: Der kleine Nick spielt Fußball (Diogenes)

Noch mehr prima Geschichten vom kleinen Nick und seinen Freunden - und zwar gleich vier Stück, die sich allesamt mit dem Thema "Fußball" beschäftigen. Dabei geht es keineswegs um die Weltmeisterschaft, sondern eher um Bolzereien unter Kumpels. Wenn es denn dazu überhaupt kommt. Denn schon die Mannschaftsaufstellung ist gar nicht so einfach. Die Entscheidung, wer Schiedsrichter und wer Kapitän wird, ist noch komplizierter. Da kann es schon einmal statt zu einem Fußballspiel zu einer gepflegten Prügelei kommen. Naja, aber das macht eigentlich auch gar nichts. Denn so richtig stressig wird es ohnehin erst, wenn sich Eltern in ein Fußballspiel einmischen. 
Unsere Jungs finden diese Geschichten "große Klasse"; vor allem die Bilder von all den frechen Kindern und von den lädierten Vätern haben sie schwer beeindruckt. Das Buch kann also auch zum Vorlesen empfohlen werden - und die Erwachsenen werden dabei zumindest schmunzeln, versprochen! 

Prädikat: *****

Petra Würth: Rache ist giftig (Heyne)

Der Hamburger Detektivin Pia Petry kommt jeder Auftrag gelegen. Und über die Anfrage einer offensichtlich vermögenden Dame, die nach einem Taxifahrer sucht, in den sich ihre Schwester während einer nächtlichen Fahrt verliebt habe, freut sich die junge Detektivin sogar: Endlich einmal eine Auf- gabe, bei der sie nicht in anderer Leute schmutziger Wäsche wühlen muss! 
Doch schon bald stolpert Pia über eine Leiche. Warum geben sich die Taxifahrer derart zugenöpft? Und was haben die Biker mit der ganzen Angelegenheit zu tun? Bald wird der Detektivin klar: Ihre Mandantin hat nicht ganz die Wahrheit gesagt; hier geht es keineswegs um Eheanbahnung, sondern knallhart um Rache. Und die Recherche ist sehr viel gefährlicher, als zunächst vermutet. Dieser Krimi von Petra Würth hat Temperament und Tempo - und ein durchaus verblüffendes Ende.

Prädikat: ***

Samstag, 19. Juni 2010

Rachida Lamrabet: Frauenland (Luchterhand)

"Frauenland" nennen die marokkanischen Männer Westeuropa, denn dort, so meinen sie, haben die Frauen das Sagen. Dennoch will Younes dorthin, übers Meer - den letzten der Liebesbriefe, die er seit fünf Jahren schreibt, will er seiner Angebeteten persönlich überbringen. Denn Mariam hat auf seine Briefe nie geantwortet.
Das ist kein Wunder, denn die junge Frau, die in Belgien als Politikerin erfolgreich ist, hat den Urlaubsflirt schon lange vergessen. Sie setzt sich für die Rechte von Migranten ein - doch obwohl sie schon als Kind mit ihrer Familie nach Belgien gekommen ist, hat sie manchmal den Eindruck, dass sie in der neuen Heimat immer noch nicht ganz angekommen ist.
Younes ertrinkt auf der Überfahrt nach Spanien. Das bringt eine Menge Unruhe in Maras Leben. Schließlich geht sie auf die Spurensuche - und was sie findet, das macht sie klüger, reifer, aber nicht wirklich glücklicher. Rachida Lambert zeigt in ihrem Roman Immigranten auf der Suche nach ihrer Identität; gefangen zwischen Tradition und Moderne, Herkunft und Zukunft. Sie stellt wichtige Fragen: Was ist Heimat? Wie findet man das Glück? Und sie zeigt verschiedene Antworten darauf. Ob der Leser sie akzeptiert, das muss jeder selbst herausfinden. 

Prädikat: **

Steve Mosby: Tote Stimmen (Droemer)

In einer britischen Großstadt geschehen brutale Morde: Der Täter bindet junge Frauen so an ihrem Bett fest, dass sie sich nicht mehr rühren können - und qualvoll verdursten. Zugleich sorgt er dafür, dass Familie und Freunde glauben, es sei alles in bester Ordnung - bis sie dann schließlich einen Anruf erhalten, in dem eine seltsam künstlich klingende Stimme fleht: "Hilf mir, hilf mir!" 
Doch wenn sie sich auf die Suche begeben, ist es schon zu spät. Detective Sam Currie sucht nach dem Mörder, aber bislang hat er keine einzige Spur. Das ändert sich, als der junge Journalist Dave seine Freundin Tori vermisst meldet. Denn wenig später erhält er eine SMS, die sie angeblich verschickt haben soll - und die sie ganz anders unterzeichnet als üblich. 
Ein Wettlauf ganz besonderer Art setzt ein. Denn sowohl Dave als auch der Detective setzen alles daran, Tori lebend zu finden - und den Täter hinter Gitter zu bringen. Steve Mosby hat hier eine gruslige Geschichte zu Papier gebracht, die man nicht aus der Hand legen kann, bevor man herausgefunden hat, wie sie endet.

Prädikat: ***

Willa Cather: Meine Antonia (Knaus)

Willa Cather berichtet vom Leben der Pioniere, die Amerika einst besiedelt haben. Millionen Menschen aus der Alten Welt zieht es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- derts in die Prärie. Die Not ist überall groß - und in Amerika hoffen viele auf ein besseres Leben. 
Doch nicht jedem gelingt es, dort eine Farm oder ein Geschäft erfolgreich aufzubauen. Cather zeigt exemplarische Lebensläufe, und erzählt zugleich faszinierende Geschich- ten am konkreten Beispiel: Familie Shimerda ist aus Böhmen nach Amerika gekommen. Sie lebt auf einer jener Farmen, die sich weit voneinander entfernt in der Prärie erstrecken. Als der Nachbarjunge Jim sie zum ersten Male besucht, haust die ganze Familie noch in einem Erdloch. Der Nachbar hat eine Aufgabe für Jim - und sie wird ihn über Jahre beschäftigen: "Lehren, lehren meine Antonia." 
Antonia lässt sich von bitterer Not und harter Arbeit nicht entmuti- gen, und lernt bei Jims Großmutter, wie man einen Haushalt führt. Dieses Wissen wird ihr Startkapital. Denn Antonia ist klug, zielstrebig und wild entschlossen, sich in diesem Lande zu behaupten. Cathers Roman ist große Literatur - doch irgend etwas stimmt nicht an ihm. Es ist die Figur des Jim, die seltsam blass bleibt. Die Leerstelle ist derart auffällig, dass man sehr bald begreift: Dieser "Jim" ist eigentlich eine Jane. Seine Lebenswelt, seine Perspektive ist nicht wirklich die eines Mannes. Und selbst sein Nachname, Burden, zeigt deutlich, dass die Autorin dies als einen Makel, eine Bürde sieht.

Prädikat: *****

René Goscinny /Jean-Jacques Sempé: Der kleine Nick und sein Luftballon (Diogenes)

Der kleine Nick ist ein ganz normaler Schulbub - allerdings haben die Geschichten um Papa, Mama, die Schule und Nicks Freunde mittlerweile schon ein bisschen Patina angesetzt. Nicht sehr viel allerdings; es ist gerade soviel, dass es ausreicht, um ins Träumen zu geraten. Denn wo ist heute nach der Schule noch eine ganze Truppe Buben allein und ohne Aufsicht unterwegs? Wo sind die Bau- lücken, in denen man Fußball spielen und mit einem Schrottauto "fahren" kann?
Unsere Jungs jedenfalls lieben die Geschichten um Nick, seinen besten Freund Otto und seine Schulkameraden Chlodwig, Franz, Georg, Roland, Max, Joachim und Adalbert sehr. Sie fiebern mit ihm, wenn er im Preisausschreiben ein Auto gewinnen will, freuen sich über die Idee, einen Zirkus zu gründen, und fiebern mit ihm einem Abend im Theater entgegen.
Dieses Buch enthält die zehn ersten Abenteuer der Rasselbande - und wir hoffen sehr, dass sich noch eine ganze Menge mehr davon finden. 

Prädikat: ****