Freitag, 13. Juli 2012

Gabi Köpp: Warum war ich bloß ein Mädchen? (Knaur)

Am 26. Januar 1945 flieht Gabi Köpp, da- mals 15 Jahre alt, zusammen mit ihrer Schwester und weiteren Verwandten vor der heranrückenden Sowjetarmee. Einen Tag später befreiten die russischen Truppen Auschwitz. 
Wie die Soldaten dann mit den deutschen Flüchtlingen umgingen, beschreibt dieses schmale Büchlein, das sich auf 14 schlimme Tage konzentriert - die Autorin hat viele Jahre gebraucht, bis sie diese Erinnerungen wieder hervorholen konnte. Denn die russischen Truppen haben nicht nur geplündert und willkürlich um sich geschossen, sie haben auch Mädchen und vorzugsweise junge Frauen vergewaltigt. Die kleine Gabi, von ihrer Familie getrennt und daher ganz ohne Schutz, musste erleben, wie die anderen Flüchtlingsfrauen sie bereitwillig den Russen zur Verfügung stellten, um selbst ver- schont zu bleiben. 
Noch schlimmer als dieses schäbige Verhalten aber war die Tatsache, dass ihre Verwandten diese Erlebnisse nicht erfahren wollten. Selbst ihre eigene Mutter, die sie 15 Monate später in Hamburg wiederfand, wollte nichts davon hören. Dieses Buch ist ein mutiges und wichtiges Buch, weil es gegen ein Tabu anrennt. Es bleibt zu hoffen, dass auch andere Flüchtlinge ihre Erinnerungen aufschreiben. Denn dies ist ein Kapitel deutscher Geschichte, das bisher leider weitgehend unge- schrieben geblieben ist. 


Prädikat: ****

Sonntag, 8. Juli 2012

Susa Bobke: Auch ein Mann bleibt manchmal liegen (Knaur)

Was kann der Mensch für sein Auto tun? Nicht mehr viel, meint Susa Bobke, berühmtester "Gelber Engel" Deutschlands. Denn die Technik ist so kompliziert geworden, dass oftmals im Pannenfall nur noch Abschleppen in die Werkstatt hilft. Trotzdem fallen ihr dann von der Batterie bis zur Bereifung noch allerlei Dinge ein, die ein Fahrer eigentlich selbst in Schuss halten kann. Und natürlich erzählt sie nebenbei von ihren Einsätzen im Dienste des ADAC - und ihr sagenhafter Humor lässt uns auch über weniger nette Begegnungen mit Autos und ihren Menschen schmunzeln. Diese Berichte haben fast schon literarische Qualität, und deshalb landet dieses Buch auch ausnahmsweise nicht im Sachbuch-Blog.


Prädikat: ***

Andrew Kaufman: Alle meine Freunde sind Superhelden (Luchterhand)

Tom ist ein ganz normaler Mensch. Das wird für ihn zum Problem, denn all seine Freunde sind Superhelden. Da gibt es beispielsweise den Schweifer, der jeden Weg findet, aber nie an seinem Ziel verweilen kann, die Froschküsserin, die Verlierer in Sieger verwandelt (und dann feststellt, dass Sieger sie nicht interessieren), den Couchsurfer, der ohne Job und ohne Wohnsitz durchs Leben geht, indem er sich bei seinen Freunden einnistet, oder die Batterie, die für ihre Gefühlsausbrüche berühmt und berüchigt ist. Und da gibt es die Perfektionistin, die Tom liebt, und ihren Ex Hypno, der aus Rache auf der Hochzeit dafür gesorgt hat, dass Tom für die Perfektionistin unsichtbar geworden ist. Jetzt braucht Tom dringend die rettende Idee, die den Zauber vertreibt. Andrew Kaufman hat ein modernes Märchen geschrieben; sehr zum Schmunzeln - aber das Lachen bleibt dem Leser im Halse stecken. 


Prädikat: ***

Jürg Amann: Der Kommandant (dtv)

"Angesichts der Wirklichkeit ist alles Er- finden obszön", meinte Jürg Amann. Er bekam die Aufzeichnungen des Rudolf Höß in die Hände, Erinnerungen, die der einstige Kommandant des Lagers Auschwitz nach seiner Verhaftung durch die britische Militärpolizei niedergeschrieben hat. Aus diesem Dokument hat Amann ein Mono- drama hergestellt, das, so der Autor, nahezu wortwörtlich auf Höß' Text basiert. Es ist die Lebensbeichte eines Mannes, der eigentlich Priester hatte werden wollen, sich dann aber doch für den Beruf des Soldaten entschieden hat - und den Gehorsam letztendlich weit über sein Gewissen stellt. Dieser Text ist grausig und faszinierend zugleich, weil er berichtet, wie es möglich ist, dass ein braver Familienvater tagsüber Menschen umbringen lässt - und nach Feierabend liebevoll über die Köpfe seiner Kinder streicht. 


Prädikat: ****

Samstag, 7. Juli 2012

Petra van Laak: 1 Frau 4 Kinder 0 Euro (fast) (Droemer)

Aus der Jugendstilvilla am See in eine ver- gammelte Mini-Wohnung, abgestürzt aus dem beschaulichen Dasein als Hausfrau und Mutter - Petra van Laak ist das passiert, als ihr Ehemann seine Firmen und damit auch seine Familie in die Pleite manövriert hat. Mit ihren Kindern, neun, sieben, fünf und drei Jahre alt, fand sie sich nach der Zwangsversteigerung ihres bisherigen Hauses ohne einen Pfennig auf der Straße wieder, ohne Auto, ohne Bücher und Möbel und all die anderen Annehmlichkeiten einer gutbürgerlichen Existenz. Ihr Neustart begann, so erzählt sie, mit vier Kindern, vier Koffern und vier Matratzen. Aber zumindest um eine Verbraucherinsolvenz scheint sie herumgekommen zu sein. Sie hat zudem tolle Kinder, die Veränderungen akzeptiert haben und phantastisch zueinander halten. 
Dass sie über ihre Erfahrungen mit den einstigen Nachbarinnen, Mitmüttern und Schwestern im Glauben einer katholischen Pfarrei heute berichten und teilweise auch herzhaft lästern kann, das freut den Leser. Dennoch kam auch Frau van Laak um Erlebnisse nicht herum, wie sie nicht ausbleiben, wenn einen Gläubiger bedrängen, wenn zwielichte Gestalten herbeischwirren, die darauf getrimmt sind, solche Notlagen auszunutzen, und wenn Vermieter und Arbeitgeber abwinken. 
Die Autorin hat schließlich aus der Not eine Tugend und sich selbst- ständig gemacht. Mit Erfolg. Sogar ein Studium an einer renommier- ten Business-School hat sie mittlerweile absolviert. "Wie ich es trotzdem geschafft habe", lautet der Untertitel dieses seltsamen Buches, und der Bericht liest sich sehr motivierend. Doch was tun, wenn jemand abrutscht, der sein Geld nicht im Luftreich der Geistes- wissenschaften verdienen kann? Was macht eine Köchin, eine Verkäuferin oder eine Sekretärin in einer ähnlichen Situation? Sie meldet sich arbeitssuchend, sie geht aufs Amt - und dabei wird es wohl für etliche Jahre bleiben.

Prädikat: **

Georges Simenon: Die Flucht des Monsieur Monde (Diogenes)

Norbert Monde hat sich ein Geschäft aufgebaut. Er hat geheiratet, Kinder gezeugt und sich ein gewisses Vermögen erarbeitet. Nun wird er 48 Jahre alt. Doch niemand gratuliert ihm. Nicht seine Frau, nicht sein Sohn, nicht seine Töchter - ja, nicht einmal seine Angestellten. In dieser Situation tritt Monsieur Monde die Flucht an. Er nimmt einen Teil seines Geldes, tauscht seine guten Sachen gegen schlechte ein und besteigt einen Zug, der ihn nach Marseille bringt. Dort lernt er Julie kennen, eine junge Dame von zweifelhaftem Beruf, doch mit einem großen Herzen. Als ihm das Geld geklaut wird, nimmt sie einen Job als Animierdame an - und er wird zu Monsieur Désiré, dem Verwalter, der in einem Tanzlokal darüber wacht, dass die Kasse stimmt. Norbert Monde beginnt sein Leben neu. Dabei aber holt ihn das alte ein. Denn er begegnet in diesem Milieu Thérèse, seiner ersten Frau - heruntergekommen und süchtig nach Morphium. Lakonisch schildert Simenon, wie Monsieur Monde die Dinge ordnet. Man staunt schließlich nicht einmal mehr darüber, dass der Held dieses Romans auch das Chaos, das ihn zu Hause erwartet, mit Fassung bewältigt. Eine grandiose Geschichte, die Simenon aus einem scheinbar nichtigen Anlass entwickelt und brillant erzählt. Ach wenn man doch täglich Bücher dieser Qualität lesen könnte! 


Prädikat: *****

Anna Schädlich / Susanne Schädlich (Hrsg.): Ein Spaziergang war es nicht (Heyne)

"Wenn es ein kollektives Geheimnis gab in meinem Land, das selbst mir mit elf Jahren bekannt war, dann jenes, dass eigentlich alle den Wunsch hegten, es zu verlassen. Zumindest befristet. Im Grunde für immer", erinnert sich Anna Langhoff an die Gesprä- che, die ostdeutsche Intellektuelle in der Küche ihrer Eltern führten. Doch dann ver- lässt ihre Familie das Land tatsächlich - wie all die anderen Dissidenten, Aufsässigen, Unbequemen, um die es in diesem Buch geht. 
Die Kinder mussten mit. Auf die oft gar nicht so schöne neue Welt, die sie in Westdeutschland erwartete, waren sie nicht vorbereitet. Hier berichten beispielsweise Eliyah Havemann, Benjamin und Jakob Schlesinger, Nadja Klier, Moritz Kirsch und Denise Kunert, wie sie den Wechsel verarbeiteten, der sie aus dem verlogenen Arbeiter- und Bauernstaat in das kapitalistische Paradies führte, das sie dann als ebenso verlogen erlebten. Es sind oft verheerende Geschichten von Erwachsenen, die so mit sich selbst beschäftigt waren, dass sie das Leiden ihrer Kinder nicht einmal wahrgenommen haben, beklemmen- de Erinnerungen aus einer bleiernen Zeit. Anna und Susanne Schäd- lich ist es zu danken, dass die Auswirkungen dieses Systemwechsels nicht länger vertuscht und verschwiegen werden. 


Prädikat: ***

Margit Schönberger: Eine Blattlaus kommt selten allein (Knaur)

Eine gestresste Großstadtbewohnerin beschließt, das verwilderte Stück Land um ihr Häuschen in einen blühenden Garten zu verwandeln. Unter den erstaunten bis miss- trauischen Blicken der Nachbarn beginnt sie zu graben, und den steinharten Dreck wieder in Beete und Rabatten zu verwandeln. 
Margit Schönberger beschreibt in diesem Buch, wie sie selbst mit ihren Rosen, ihrem Lavendel und ihrem Wilden Wein gewachsen ist. Ein hübsches, gut lesbares Plädoyer für das Gärtnern.


Prädikat: ***

Christian Haller: Die Stecknadeln des Herrn Nabokov (Luchterhand)

Was passiert, wenn man das Leben ent- schleunigt? Das ist das zentrale Thema dieser Miniaturen des Schweizer Autors Christian Haller. Diese knappen, doch bei näherer Betrachtung sehr sorgfältig komponierten Textchen verweisen auf die Substanz des Daseins: Ideen, Reflexionen, Beobachtungen, Augen-Blicke im Wortsinne, die uns einhalten lassen. Haller zeigt, wie- viel Poesie in einem solchen Zwischenraum hindurchzuschaun steckt, und öffnet uns die Augen für viele sogenannte kleine Dinge des Lebens, die man in der täglichen Hatz nur zu leicht übersieht. 


Prädikat: ****

Lena Johannson: Die unsichtbare Handschrift (Knaur)

Lübeck, im Jahr 1226. Der Rat der Stadt will Kaiser Friedrich ein Schreiben senden, um sich die Privilegien bestätigen zu lassen, die einst Barbarossa erteilt hat. Doch einige Leute wollen den Kaufleuten einen Strich durch die Rechnung machen. Da ist der Graf von Schauenburg, der sich die vermögende Stadt gern aneignen würde. Da ist ein Kaufmann aus Köln, der gern Geld verdient, und dafür auch krumme Geschäfte nicht scheut. Und da ist die junge Esther, die Schwester eines Schreibers, die gern den Lübecker Kaufmann Vitus heiraten würde. Doch ihm fehlt es am Geld. Esther hat eine Idee, wie er schneller zu einem Vermögen kommt, das ihm die Familiengründung erlauben würde. Denn die junge Frau kann nicht nur Tinten anreiben, sie hat auch lesen und schreiben gelernt. 
Und so findet die Restauratorin Christa Bauer 800 Jahre später bei der Bergung von Archivalien aus den Trümmern des eingestürzten Stadtarchivs von Köln eine Urkunde, die eine Sensation bedeutet. Lena Johannson hat einen spannenden historischen Roman geschrie- ben, der allerdings in einigen Details Fragezeichen entstehen lässt. Sollte ein Schreiber in der sozialen Hierarchie jener Zeit tatsächlich knapp über den Tagelöhnern eingestuft worden sein? Und wieso hat die Heldin der Geschichte eigentlich derart viel freie Zeit? 


Prädikat: **

Sobo Swobodnik: Kille Kille King (Heyne)

In München ist es nicht auszuhalten - Bau- lärm macht Plotek zu schaffen. Und so nimmt er erfreut das Angebot eines Bekannten an, bis auf weiteres seinen Campingwagen an der Ostsee zu bewohnen. Sein bester Freund Vinzi trifft auch bald darauf dort ein, denn er hat eine Unter- mieterin, die aus Kuhfladen die Zukunft  weissagt, und damit gut ausgelastet ist, seit die Online-Ausgabe eines renommierten deutschen Nachrichtenmagazins darüber berichtet hat. Vor dem Ansturm der Neu- gierigen flüchtet Vinzi also aus Schwäbisch Sibirien an die Küste - und kommt gerade richtig, um zu beobachten, wie aus einem der Nach- barwagen eine Leiche herausgetragen wird. 
Den Strand können die beiden nur bedingt genießen. Denn bei der einen Leiche bleibt es nicht. Und die Neuankömmlinge werden umgehend zu den Hauptverdächtigen. Doch welche Rolle spielen die Spargelstecher aus dem Baltikum? Und welche Verbindungen gibt es zwischen dem Puff im Nachbar-Kurort, in dem die Prostituierten ganz erstaunlich jung sind, dem Spargel-Imperium und dem Campingplatz? Plotek und Vinzi müssen es herausfinden, weil sie nur so dem Kommissar entrinnen können.
Für diesen Krimi hat Sobo Swobodnik Figuren erdacht, wie sie eigentlich nur das Leben hervorbringen kann. Und er schreibt Sätze wie "Camping ist, wenn man seine eigene Verwahrlosung als Entspannung empfindet." Köstlich. Wer seinen Urlaub auf Balkonien verbringt, dem sei dies als Ferienlektüre empfohlen. 


Prädikat: ***