Sonntag, 23. Januar 2011

Hansjörg Schneider: Hunkeler und die Augen des Ödipus (Diogenes)

Eigentlich ist er schon so gut wie in Pension, der Kriminalkommissär Peter Hunkeler. Doch dann wird das Hausboot des Basler Intendanten Bernhard Vetter an einem Stauwehr aufgefunden - zwei Wochen nach einem dicken Theaterskandal. Hunkeler, der einst selbst im Theatermilieu verkehrte, macht sich auf die Suche nach dem Theater- mann, der gern so recht den Bürgerschreck gegeben hat, und nun vermutlich als Leiche auf dem Rhein dahintreibt. Der Kommissär trifft zahlreiche alte Bekannte wieder. Und gar nicht wenige davon haben mit dem Theaterdirektor noch eine Rechnung offen. Ein spannender Krimi, mit viel antibürgerlichem Geschwätz, gut gemischt mit Theaterintrigen - und einem durchaus bürgerlichen Finale.

Andreas Franz: Spiel der Teufel (Knaur)

Sie werden mit dem Versprechen einer besseren Zukunft im Westen geködert. Sie kommen mit dem Schiff, und niemand stört die Entladung dieser heiklen Fracht. Eine Spritze setzt allen Träumen ein Ende; die Organe sind bereits verkauft an skrupellose Superreiche. Es operieren die besten deutschen Spezialisten - motiviert durch viel Geld, und durch Erpressung. Die ausgeweideten Kadaver der Kinder und der jungen Leute werden dann zurück in die Heimat geschickt, ebenso wie die Leichen all jener, die diese kriminellen Geschäfte stören. 
Auf der Suche nach dem Mörder eines Kollegen gelingt es Polizisten aus Kiel, eine Klinik auffliegen zu lassen, in der illegale Organ- transplantationen vorgenommen werden. Doch die Mafia ist ihnen längst um Meilen voraus. Ein beklemmender Krimi, mit einem frustrierenden Schluss. 

Kerry Reichs: Braut auf Probe (Heyne)

Schon als Kind freute sich Kevin, genannt Vi, aufs Heiraten. Hochzeiten sind für die junge Dame aus der amerikanischen Provinz schlicht das Allergrößte. Doch dann bricht unter ihren Freundinnen die Torschlusspanik aus - und Vi erlebt elf Hochzeiten innerhalb von 18 Monaten. 
Dieses zweifelhafte Vergnügen beschert ihr die hässlichsten Kleider, in denen je Brautjungfern gesteckt haben, elf zumeist furchtbar langweilige Feiern, und Kosten von gut 50.000 Dollar. Und das Schlimmste daran: Die Ehen halten nicht. Als Vi diesen Hochzeitsmarathon hinter sich gebracht hat, lassen sich die ersten Paare schon wieder scheiden. Vi findet nun den "allerschönsten Tag im Leben" derart abschreckend, dass sie selbst darauf gern verzichten würde - wäre da nicht Niall, der das ganz anders sieht. Eine köstliche Komödie um Traditionen und den mehr oder weniger souveränen Umgang mit ihnen. 

Justyna Polanska: Unter deutschen Betten (Knaur)

"Justyna" kam aus Polen nach Deutschland, weil es in ihrer Heimat keine Jobs gibt. Bei uns gibt es welche - und sie lohnen sich auch, jedenfalls dann, wenn man den Fiskus und die Sozialkassen außen vor lässt. 
Die Autorin behauptet, sie sei Polin, etwa 30 Jahre alt, und wolle mit dem Geld, das sie verdient, eine Ausbildung zur Visagistin finanzieren. Auf ihre deutschen Brötchen- geber schaut sie mit einem Blick, der mitunter an einen Spaziergänger erinnert, der durch den Zoo marschiert - und sich vor den Affenkäfigen gut amüsiert. Das mag freilich auch mit am Verlag liegen, der dieses Büchlein als Skandalon vermarkten möchte. Doch für mehr als ein Skandälchen reicht sie nicht, die Liste jener ekligen Dinge, die unter deutschen Betten - huch! - herumliegen. Und dass es Leute gibt, die in der ererbten Villa sitzen, und trotzdem nicht das Geld haben, sich ein paar Brötchen zu kaufen, ist auch nicht wirklich eine Über- raschung. 
Dass hier und da ein männliches Wesen eine Reinigungsfachkraft für eine Expertin hält, die auch andere Dienstleistungen anbietet, und dass nicht alle weiblichen Wesen ihrer Haushilfe mit Respekt begegnen - nun ja, Manieren hat halt nicht jeder. Aber es ist der große Vorteil eines jeden Selbständigen, dass er sich seine Kundschaft aussuchen kann. Insofern - viel Lärm um nichts. Aber amüsant aufgeschrieben. 

Henrike Heiland: Für immer und ledig? (Heyne)

Tilly hat kein Glück mit Männern. Ihren Freund, den Sänger, erwischt sie mit einer Zweiten Geige im Orchestergraben. Und Kapellmeister Marc, eine heiße Affäre aus Studientagen, will heiraten - ausgerechnet ihre Schwester Fina, die Bankerin mit der Platin-Kreditkarte und den stählernen Nerven. 
Zu allem Überfluss ist auch noch Tillys Probenraum in Gefahr; ein Immobilienhai will das alte Gemäuer abreißen, und gewinnbringend neu bauen. Da sind die Künstler im Wege - auch Tillys Flügel stört. 
All das ist zuviel für die Musikerin. Doch eine große Portion Chaos bringt auch Entwicklungschancen. Warum beispielsweise kümmert sich Rupert mit seiner Agentur noch immer um die Pianistin, obwohl sie sich weigert, aufzutreten? Und von wem stammt eigentlich der Blumenstrauß, den Tilly jedes Jahr zum Jahrestag ihres Abschluss- konzertes an der Musikhochschule bekommt? 
Eine unterhaltsame Geschichte, die den ganz normalen Wahnsinn des Theateralltags ziemlich solide eingefangen hat - und dann beim Thema Heiraten kräftig übertreibt. 

Donnerstag, 6. Januar 2011

Michail Bulgakow: Arztgeschichten (Luchterhand)

Wo kann ein Arzt, der gerade erst mit dem Studium fertiggeworden ist, etwas lernen? In der Provinz, selbstverständlich! Und so wird der Absolvent Bulgakow als leitender (und einziger) Arzt ins Semstwokrankenhaus nach Nikolskaja verschickt - praktisches Jahr radikal, sozusagen, denn der nächste Arzt ist eine Tagesreise entfernt. 
Bulgakow berichtet von seiner Ankunft, und von seinen Patienten. Gleich am ersten Tag wird er zu einem jungen Mädchen gerufen, das in eine Maschine geraten ist, und dem er nun, vor den kritischen Augen des pflegerischen Personals, ein Bein amputieren muss. Der nächste Fall, ein Kind mit Diphterie, ist eigentlich nicht mehr zu retten - doch der junge Arzt wagt sich an einen Luftröhrenschnitt. Wenig später ruft ihn die Hebamme zu einer Gebärenden, deren Kind sich in Querlage befindet, und vom Arzt in der Gebärmutter gewendet werden muss, so dass die Geburt mit den Füßchen zuerst erfolgen kann. Schussverletzungen, Typhus, Syphilis - mehr als 15.000 Patienten behandelt Bulgakow innerhalb eines Jahres. Liebevoll erzählt er von den Bauern, die natürlich alle nicht mit einem Schnupfen in seine Praxis kommen - und davon, wie diese Erfahrungen aus einem Berufsanfänger einen Praktiker machen, der schon das Kreiskrankenhaus mit seinen fünf Arztkollegen als luxuriös empfindet. Geschichten von einem Anfang - nicht nur als Arzt, sondern auch als Autor.

Sonntag, 2. Januar 2011

Luc Deflo: Schnitzeljagd (Knaur)

Eine junge Frau findet abends nach einem Kinobesuch eine alte Frau in ihrem Auto vor. Sie lässt sich überreden, die Alte nach Hause zu fahren - und stellt unterwegs plötzlich fest, dass in ihrem Auto ein Mann sitzt, der sich darauf vorbereitet, sie anzugreifen. Vor Schreck verursacht sie einen Unfall - was ihr das Leben rettet, denn der psychopathische Killer flüchtet.
Ein Fall für Kommissar Dirk Deleu, der sich daran erinnert, dass er schon einmal eine Frau gesehen hat, die der Blondine wie eine Zwillingsschwester ähnelte - genauer gesagt, ihre enthauptete Leiche.

Italo Svevo: Zenos Gewissen (Diogenes)

Italo Svevo, der italienische Schwabe, nannte sich der 1861 in Triest geborene Ettore Schmitz. Dieses Buch ist eine Parodie auf die Psychoanalyse, die der Schriftsteller offenbar nicht besonders schätzte. Denn sein Held Zeno Cosini hat eigentlich keine Probleme - er muss nicht einmal arbeiten, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Und genau das ist sein Problem. Denn wenn so gar nichts zu tun ist, vergeht die Zeit unendlich langsam. Der Leser langweilt sich mit Zeno, denn die Handlung dieses Buches zieht sich hin, wie die Gespräche mit dem Analytiker. Selbst wenn Svevo witzig schreibt, so ist dieser Cosini doch ein ziemlicher Trottel - und es ist nicht gerade ein Vergnügen, ihn dabei zu beobachten, wie er durchs Leben stolpert.

Samstag, 1. Januar 2011

Leo Maasburg: Mutter Teresa (Pattloch)

Als Anjeze Gonxha Bojaxhiu aus dem albanisches Skopje 1928 mit gerade einmal 18 Jahren in Dublin in den Orden der Loreto-Schwestern eintrat, um als Missionarin nach Indien zu gehen, konnte niemand ahnen, welches Lebenswerk sie einst hinterlassen sollte. In Indien erlebte sie schlimmstes Elend - und verließ die Geborgenheit ihres Lebens als Schul- schwester, um in Armut den Ärmsten der Armen zu dienen, den Sterbenden, Waisen und Kranken, insbesondere den Leprakranken. 1979 erhielt sie den Friedensnobelpreis, 2003, lediglich sechs Jahre nach ihrem Tod, wurde sie seliggesprochen.
"Father Leo", über viele Jahre lang als Priester, Chauffeur, Reise- begleiter, Ratgeber und Übersetzer an ihrer Seite, hat in diesem Buch seine Erinnerungen an Mutter Teresa aufgeschrieben. Er erzählt viele Geschichten um die resolute Gründerin der Missionarinnen der Nächstenliebe - beeindruckend, großartig. Er zeigt sie als starke Persönlichkeit, die unbeirrbar ihren Weg ging. Von ihrem Glaubens- zweifel und auch von Kritik an ihrem Wirken findet sich kein Wort. Das macht das Buch einseitig, und das ist wirklich schade. Wer den Verdacht hat, hier eine katholische Propagandaschrift in Händen zu halten, der sollte auch ihre Tagebücher und Briefe lesen - und die Stimmen ihrer Kritiker prüfen.

Sebastian Fitzek (Hg.): P.S. Ich töte dich (Droemer)

Dieses schicke, stylisch aufgemachte Bändchen enthält 13 fiese Zehn-Minuten-Thriller von etablierten, durchweg exzellenten Krimi-Autoren. Die Kurz- geschichten, zusammengestellt von Sebastian Fitzek, vertreiben einem die Zeit auf Reisen, oder rauben einem den Schlaf - in jedem Falle sind sie beeindruckend. Und wer noch etwas über die Autoren erfahren möchte, der kann zudem ihre Handschriften- proben studieren, die er nebst Vita und einem freundlichen graphologischen Kurzgutachten ebenfalls in dem Bändchen findet.

Angela S. Choi: Hello Kitty muss sterben (Luchterhand)

Fiona Fu ist eine sehr erfolgreiche amerikanische Juristin. Und sie ist zugleich die Tochter chinesischer Eltern, die von ihr erwarten, dass sie sich auch so verhält: Schweigen, gehorchen, Lippenstift benutzen, keine Emotionen zeigen, und vor allem - einen chinesischen Mann heiraten. 
In der Woche schuftet sie in der Kanzlei, und schreibt dicke Rechnungen. Und am Wochenende hilft sie im Waschsalon ihrer Eltern aus, und wird Heiratskandidaten vorgeführt, die ihre Eltern für sie ausgesucht haben - und was sind das für Gestalten, o je! Durch Zufall trifft sie einen alten Schulfreund wieder, der nicht nur als Chirurg Karriere gemacht hat, wie Fiona bald herausfindet, sondern auch als Serienmörder. Und während er Prostituierte jagt, beginnt Fiona, sich der Heiratskandidaten zu entledigen. Unter anderem. Eine köstliche Satire über den American Dream und seine Schatten- seiten - brillant, boshaft, und schockierend.

Thomas Kastura: Das dunkle Erbe (Knaur)

Die Frau, die Geliebte und die Kollegin des Kölner Arztes Bernhard Schwan werden tot aufgefunden. Alles deutet darauf hin, dass er die drei ermordet hat. Das Motiv freilich bleibt unklar - und je länger Kommissar Klemens Raupach den Tatverdächtigen vernimmt, desto rätselhafter wird dieser Fall. Dann aber taucht eine amerikanische Journalistin auf, auf der Suche nach dem Erbe ihrer Vorfahren. Die Springmanns waren just in der Villa zu Hause, in der Schwan heute seine Praxis hat - und die Kunstschätze, die sie einst besessen haben, sind verschollen. 
Nach langer Suche findet sich schließlich eine Erklärung für die drei Morde - und auch für einen vierten, der offensichtlich einen der Täter aus dem Wege räumt. Des Rätsels Lösung wartet bei einer greisen Nachbarin - und hat die Dimensionen einer antiken Tragödie.

Leo Tolstoi: Auferstehung (Diogenes)

Fürst Nechliudow nimmt als Geschworener an einer Gerichtsverhandlung teil. In der Prostituierten "Ljubka" erkennt er seine Jugendliebe Katharina, die er einst im Hause seiner Tanten verführt und dann sitzengelassen hatte. Er fühlt sich schuldig, denn er kommt zu der Meinung, dass das Mädchen seinetwegen in diese schlimmen Verhältnisse geraten ist. Und deshalb folgt er der Verurteilten nach Sibirien, und bietet ihr die Ehe an - doch er muss erkennen, dass es "seine" Katjuscha nicht mehr gibt. Sie ist mit dem Kind gestorben, nachdem die Tanten sie davongejagt hatten. Und die Maslowa, die nun zur Zwangsarbeit abtransportiert wird, braucht und will den Fürsten nicht. 
Eine erschütternde Geschichte aus dem zaristischen Russland - auch wenn sie mit Tolstois umständlichen Überlegungen darüber gespickt ist, wie aus diesem Lande eine menschliche Gesellschaft werden könnte. Detailliert berichtet Tolstoi über die Mühlen der Justiz, die Schuldige und Unschuldige gleichermaßen zermalmen, und über den Strafvollzug - so unmenschlich, dass bereits kurze Haft den Tod bedeuten kann.

Peter Abrahams: Ausradiert (Knaur)

Nick Petrov, Privatdetektiv, soll die Tochter eines Callgirls finden. Doch bei seinen Ermittlungen wird er zusammengeschlagen, und verliert das Gedächtnis. Obendrein finden die Ärzte bei ihm auch noch einen Tumor. Doch Petrov gibt nicht auf. Hart- näckig versucht er, die wenigen Spuren, die er anschließend noch vorfindet, zu ver- folgen und zu verknüpfen. Wie bei einem Puzzle, so fügen sie sich schrittweise zu einem Bild zusammen. Das entscheidende Teil aber fehlt - bis zum atemberaubenden Finale. Denn Petrov bemerkt Parallelen zu einem Mordfall, den er vor Jahren gelöst hat. Als er sich endlich erinnert, ist es schon fast zu spät. Ein brillanter Krimi - spannend bis zur letzten Zeile!

Amanda Sthers: Der Gesang der Zikaden (Luchterhand)

Madeleine, 40, füllig, Angestellte eines Immobilienmaklers in Brest, führt ein ganz normales, unspektakuläres Leben - bis sie eines Tages einem feinen Herrn aus Paris ein Haus zeigen soll. Da beginnt eine ungewöhnliche Liebesgeschichte. Doch sie endet ebenso abrupt, wie sie begonnen hat. "Man verlässt seine Welt nicht für eine etwas füllige Bretonin, mit der man drei Worte gewechselt hat und eine halbe Stunde Sex hatte", kommentiert Sthers lakonisch. Und daran ändert sich nichts, auch wenn aus der halben Stunde Tage und Wochen werden.

Das Neue Testament (Diogenes)

Der Nachdruck einer ganz besonderen Bibelausgabe aus dem Jahre 1858: Das Neue Testament, und zwar in gleich vier Sprachen, jeweils parallel zu lesen in den vier Spalten einer Doppelseite. Diese Ausgabe enthält nebeneinander die "Urfassung" in Koine, einer Variante des Altgriechischen , die um die Jahr- tausendwende eine der wichtigsten Verkehrssprachen im Mittelmeerraum war, ihre Übersetzung in die Sprache der Kirche, die lateinische Vulgata, die deutsche Übersetzung Martin Luthers, und die in gleicher Weise bedeutsame Version der King James Bible aus dem Jahr 1611, die das heutige Englisch mitgeprägt hat. 
Dieses Novum Testamentum Tetraglotton ist ein typographisches Wunderwerk und zugleich ein Stück Religions-, Kultur- und vor allem Sprachgeschichte. Es gehört daher nicht nur in die Handbibliothek von Theologen, sondern ist auch ein unentbehrliches Arbeitsmittel für Übersetzer sowie für Sprach- und Kulturwissenschaftler. Dieses Buch ist vor allem aber auch ein schönes Buch, das in der Qualität von Druck, Einband und Schuber einer aussterbenden Spezies angehört. Lob und Dank sei dem Diogenes Verlag, der dieses Kulturdenkmal zu erschwinglichem Preise wieder zugänglich macht.