Freitag, 20. August 2010

Lena Falkenhagen: Die Schicksalsleserin (Heyne)

Wien, 1529: Die Türken stürmen heran. Nur knapp gelingt es der jungen Madelin, sich mit ihren Gefährten hinter den Mauern der Stadt in Sicherheit zu bringen. Doch in Wien ist sie nicht willkommen. Ihre Schwester weist sie ab, und auch ihre Mutter empfängt sie nicht.
Während der Feind die Mauern berennt, kommt die junge Frau schrittweise hinter ein sorgsam gehütetes Familiengeheimnis. Denn ihr Name ist eigentlich Meryem. Und ihre Mutter Elisabeth von Schaunburg, Mätresse des Grafen zu Hardegg, spielt ein doppeltes Spiel: Ihr Herz gehört noch immer Meryems Vater Mehmed - doch der steht im Dienst des Sultans, und setzt alles daran, die Stadt Wien zu erobern. 
Ein Roman im historischen Gewand, geschickt gestrickt um ein geheimnisvolles Tarotspiel und eine junge Frau, die aus gutem Hause stammt, aber nun mit fahrendem Volk umherstreift. Dramatisch, exzellent erzählt, kurz und gut: Erstklassiger Lesestoff für alle Freunde des Genres. 

Prädikat: ***

Samstag, 14. August 2010

Ulrich Grober: Vom Wandern (Zweitausendeins)

"Auch Körperkraft ist eine erneuerbare Energie", meint Ulrich Grober. Er ist freier Journalist, und lebt am Rande des Ruhr- gebietes. Gewandert ist er in seiner Kind- heit, mehr oder weniger freiwillig. Nun, als Erwachsener, entdeckt er die Fortbewegung auf Schusters Rappen neu für sich - und lässt alle Welt an seinen Touren teilhaben. 
Das freilich ist nicht unproblematisch, wird der Leser dem Autor bald zustimmen: "Ohne die direkte Erfahrung von Nahräumen bleibt die Wahrnehmung globaler Räume oberflächlich", schreibt Grober. "Ohne das eigene Erleben in begehbaren Räumen ist man den medial vermittelten Bildern ausgeliefert. Virtuelle Realitäten werden nur im Gegenlicht von realen Erfahrungen produktiv." Vom Wandern zu lesen, das ist ähnlich hilfreich wie die Lektüre eines Kochbuches durch einen Hungrigen: Es macht ihn vielleicht schlauer, aber es macht nicht satt. 

Prädikat: ***

Jonathan Tropper: Sieben verdammt lange Tage (Knaur)

Vater Foxman ist gestorben - und sein letzter Wunsch treibt seinen Kindern den Angstschweiß auf die Stirn: Die Foxmans sollen die jüdische Totenwache halten - Schiwa sitzen, sieben Tage lang, alle gemeinsam auf unbequemen Stühlen in einem engen Raum, abgelenkt nur von den Nachbarn, die zum Kondolieren erscheinen. "Bestimmt werden wir uns auf die Nerven gehen, aber für die nächsten sieben Tage seid ihr wieder meine Kinder. Und ihr habt Hausarrest!" verkündet Mutter Foxman, im Hauptberuf Psychologin und Autorin vielverkaufter Ratgeber zum Thema Erziehung.
Und so lassen sie sich denn auf den Stühlchen nieder, und harren der Nachbarn, die da klingeln werden - Paul, der das Familienunter- nehmen weiterführt, obwohl er eigentlich nie wollte, Wendy, verheiratet mit einem Finanzmakler, was sie als Lebensaufgabe betrachtet und nicht als vergoldetes Gefängnis, Phillip, das Nesthäkchen, das stets ganz sicher die falsche Entscheidung trifft, und Judd, der Ich-Erzähler, der erst kürzlich seine Frau in seinem Bett mit seinem Boss erwischt hat - und nun erfährt, dass dieser zeugungsunfähig und seine Frau schwanger ist. 
Der Leser wird erstaunt feststellen, wie wenig die trauernde Familie in diesen Tagen zu Hause ist. Die wirklich wichtigen Ereignisse finden anderswo statt - und nach den sieben Tagen ist nichts mehr, wie es vorher war. Eine turbulente, charmant erzählte Geschichte um große und kleine Lebenslügen. 

Prädikat: ***

Donnerstag, 5. August 2010

Gerard Donovan: Winter in Maine (Luchterhand)

Lang ist der Winter in den Wäldern von Maine, kalt und einsam. Bislang hat das Julius Winsome nicht gestört; er lebte schon lange allein inmitten der Bücher seines Vaters. Gesellschaft leistete ihm nur sein Pitbullterrier Hobbes. Doch dann wird der Hund erschossen - absichtlich, meint Julius. Und begibt sich nun seinerseits auf die Jagd nach dem Hundemörder. 
Eine brutale, verstörende Geschichte, handwerklich ungeheuer gut gemacht. Man kann gar nicht wieder aufhören zu lesen. 

Prädikat: ****

Johann Peter Hebel: Unverhofftes Wiedersehen (Diogenes)

Die alten Geschichten sind doch oft die besten. Diese hier hat Johann Peter Hebel, Direktor am Karlsruher Gymnasium, für den "Rheinischen Hausfreund" geschrieben, einen Kalender. Eine Auswahl davon er- schien 1811 unter dem Titel "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds", und die wiederum schönsten davon enthält dieses Büchlein.
Die Geschichten vermitteln auf kunstvolle Art und Weise Lebensweisheit und Moral. Wer darauf achtet, der wird zudem feststellen, dass sie auch in ihrer sprachlichen Gestaltung kleine Meisterwerke sind, die nicht leicht ihresgleichen haben. Wunderbar! So etwas sollte eigentlich in der Schule gelesen werden.

Prädikat: *****

Sonntag, 1. August 2010

Chuck Hogan: Mördermond (Heyne)

Don Maddox kehrt nach Black Falls zurück, und nimmt in dem zunehmend herunter- kommenden Städtchen eine Stelle als Hilfspolizist an. Der einzige, der diese Entscheidung versteht, ist der frühere Polizeichef des Ortes. Denn er weiß, dass in Black Falls Dinge geschehen, die besser nicht geschehen sollten.
Und er weiß, welchen Job Don eigentlich hat: Er ist ein verdeckter Ermittler. Black Falls ist als Umschlagplatz von Designer- drogen aufgefallen. Maddox soll den Drogensumpf trockenlegen, und außerdem in dem Städtchen wieder für Recht und Ordnung sorgen. Denn auch die örtliche Polizei gleicht mittlerweile eher einer Räuberbande. 
Der Leser ahnt bald, dass die beiden Aufgaben untrennbar mit- einander verknüpft sind. Doch wie die Machtverhältnisse in Black Falls wirklich aussehen, das deckt Chuck Hogan in seinem Roman erst sehr spät auf - und so bleibt dieser Krimi, in dem es natürlich auch Leichen gibt, spannend bis zum Schluss. 

Prädikat: ***

Corina Bomann: Das Krähenweib (Knaur)

Als Annalena Habrecht 1701 in Berlin den Apothekerlehrling Johann Friedrich Böttger kennenlernt, ist das Liebe auf den ersten Blick. Doch Böttger hat noch eine zweite Leidenschaft: Die Alchemie. Schon bald kommt in Berlin das Gerücht auf, er könne Gold erzeugen. Dafür interessiert sich prompt auch der König von Preußen, dem der vermeintliche "Goldmacher" gerade noch so entkommen kann. 
Böttger flüchtet nach Sachsen - und dort wird er umgehend von den Beamten Augusts des Starken festgesetzt. Denn auch der Kurfürst möchte seine Kassen auffüllen. Schlechte Voraussetzungen für eine Liebesbeziehung. Die Rahmenerzählung allerdings, die Annalena obendrein als Henkerstochter vorstellt, die mit einem Henkersknecht verheiratet ist und von diesem so lange gequält und verfolgt wird, bis sie ihn erschlägt, verkompliziert die Geschichte nur unnötig. Zum eigentlichen Geschehen trät sie wenig bei, und zusätzliche Spannung baut sie auch nicht auf.
Ein halbwegs solide erzählter Historienroman, mit herzigen Stellen für Liebhaberinnen derartiger Liebesgeschichten. 

Prädikat: **

Alexandra von Grote: Der tote Junge aus der Seine (Heyne)

Die Leiche eines Kindes wird aus der Seine gefischt. Hände und Füße des Knaben sind gefesselt; er wurde im Meerwasser ertränkt, und zuvor brachial misshandelt und vergewaltigt, stellt die Gerichtsmedizin fest.
Doch die Polizei kommt nicht weiter. Denn der Unbekannte wird nirgends vermisst. Ein zweiter Kriminalfall bringt die Beamten dann allerdings auf eine interessante Spur: Ein bekannter Fernsehmoderator wird erschla- gen in einer Herrentoilette aufgefunden. Was sie bei den Ermitt- lungen herausfinden, das ist ebenso unappetitlich wie erschütternd. Dieser Fall führt Kommissar LaBréa und seine Kollegen in die höchsten Kreise der Pariser Gesellschaft.
Ein spannender Krimi, routiniert erzählt.

Prädikat: ***

Tomasz Rózycki: Zwölf Stationen (Luchterhand)

Ein Heldenepos aus dem modernen Polen: Eigentlich wollte der Erzähler ja nur seine alte Großmutter besuchen, in Opole, "irgendwo an der Grenze zwischen Grober- und Biederschlesien". Doch dann gibt's nicht nur Piroggen für den Enkel, sondern auch einen Auftrag. Der namenlose Held soll die Verwandtschaft zusammentrommeln, die heute weit verstreut lebt, und mit allen in die Heimat zurückkehren, aus der sie zum Kriegsende vertrieben worden sind.
Dieses Poem ist ebenso furios wie grotesk. Es bricht über den Leser herein mit der Gewalt einer Flutwelle, und zwingt regelrecht zum Umblättern - Rózycki überwältigt mit seiner Fabulierkunst, seiner Ironie und seiner Sprachkraft. 

Prädikat: ****

René Goscinny /Jean-Jacques Sempé: Der kleine Nick ist wieder da! (Diogenes)

45 Geschichten vom kleinen Nick hat Anne Goscinny, die Tochter von René Goscinny, aus dem Archiv ihres Vaters heraus- gesucht. Sie sind zwischen 1959 und 1965 im Sud-Ouest Dimanche und im Pilote erschienen. Und Jean-Jacques Sempé hat noch einmal den Zeichenstift gezückt und all jene Geschichten, zu denen keine Zeichnungen mehr vorhanden waren, neu illustriert.
Darüber haben sich nicht nur unsere Kinder gefreut. Denn Nick erweist sich erneut als kleiner Philosoph, der insbesondere die Welt der großen Leute erstaunlich hellsichtig betrachtet. So macht das Vorlesen auch den Erwachsenen Spaß, und lernen kann man aus diesen Geschichten sowieso eine ganze Menge.
Die Kinderchen freuen sich, weil es auch in anderen Familien mitunter ziemlich unpädagogisch zugeht. Kichernd stellen sie fest, dass sich selbst die besten Freunde gelegentlich zusammenraufen müssen. Und die Eltern merken schnell, dass man nicht immer jedes Problemchen auf die Goldwaage legen muss: Wo gehobelt wird, da fallen halt Späne. 

Prädikat: *****